Leben im Alter: Was wir Erwachsenen von den Kindern lernen können
Leben im Alter: Was wir Erwachsenen von den Kindern lernen können
Erst seit Kurzem, nach einem Schenkelhalsbruch, lebt die 94-jährige Heidi Zingg, geborene Kauer, aus Thun im Seniorenzentrum «Sonnmatt». Wir haben ein interessantes und berührendes Gespräch über ihr Leben geführt.
Text & Fotos: Thomas Bornhauser
Geboren wurde sie am 8. Dezember 1920 in Bern, Familie Kauer wohnte damals an der Diesbachstrasse 13, der Vater war Direktor bei der Verbandsdruckerei Bern. In die Primarschule ging Heidi Kauer ins (wie es heute heisst) «alte Schulhaus» an der Neufeldstrasse, nicht weit von zu Hause entfernt. «Zu Fräulein Kammermann», lacht sie, «damals war es üblich, ledige Frauen mit Fräulein anzusprechen.» Die Sekundarschule besuchte sie später im Berner Monbijou-Quartier.
Mit Stephanie Glaser
die Schulbank gedrückt
Wenn man Heidi Zingg nach ihren Erinnerungen an die Schulzeit fragt, so kommt spontan ein «Ir Sek bin ig näbe dr Stephanie Glaser gsässe, mir heis zäme immer luschtig gha!» Sie hätte gerne, wie ihre berühmte Schulfreundin, die Schauspielschule absolviert oder aber studiert, weil sie prüfungsfrei ins damalige Progymnasium – den «Proger» – hätte wechseln können. Das aber kam nicht in Frage. «Meitschi müesse nid go studiere», habe der Vater verlauten lassen. Ihre vier «Brüetsche», die sie alle überlebt hat, hingegen hätten die Uni besuchen können, alle vier mit Erfolg.
Heidi Zingg braucht es selber gar nicht auszusprechen (das würde sie auch nicht), man merkt ihr an, dass sie blitzgescheit war – und es bis heute geblieben ist. Sie ist eine aufmerksame Zuhörerin, eine bemerkenswerte Gesprächspartnerin mit einem wachen Blick, nur selten muss sie nach Fragen kurz überlegen, was genau wann passiert ist. Beneidenswert. Zurück in die Schulstube: Heidi konnte zwei Gedichte besonders gut vortragen und musste das bei besonderen Anlässen auch immer wieder tun, nämlich «Die wandelnde Glocke» und «Der Zauberlehrling», beide von Johann Wolfgang von Goethe. «Ich war schon ein bisschen neidisch, dass Stephanie ihre Begabung zum Beruf machen konnte», gibt die Bernerin heute offen und ehrlich zu, aber durchaus mit einem Augenzwinkern.
«Dä dört, dä nämt ig.»
1940 lernte sie ihren Mann kennen. Und Heidi Kauer wäre nicht Heidi Zingg, wäre das auf eine alltägliche Art passiert… Einer ihrer Brüder war Mitglied der Studentenverbindung «Halleriana Bernensis». Einmal ergab es sich, dass Heidi mit ihrem Bruder auf einige dieser Hallerianer traf. Einer fiel ihr dabei besonders auf. Ein gewisser Hans-Rudolf Zingg. Zu ihrem Bruder sagte sie: «Du, wenn dä e keini het, dä nämt ig.» Liebe Lesende, überrascht es Sie noch, dass die beiden 1942 bereits heirateten? Das tat das Paar durchaus mit bestimmten Hintergedanken. Hans war nämlich Lehrer und Mitglieder dieser Gilde gab es seinerzeit im Überfluss. «Wenn wir heiraten», meinte sie zu ihm, «findest du bestimmt schneller eine Stelle.» Und das traf auch zu: Hans wurde als Progi-Lehrer in Thun angestellt.
«Wenn wir heiraten», meinte sie zu ihm, «findest du bestimmt schneller eine Stelle.»
Alle Schaltjahre einmal
Zu jener Zeit herrschte Krieg in Europa, Hans leistete seinen Zivildienst im Wallis, war oft weg von zu Hause. Was bleibt Heidi Zingg von diesen Jahren in Erinnerung? «Die Angst, wenn wir Flugzeuge über der Schweiz fliegen hörten, nie konnte man sicher sein, ob nicht ein feindlicher Angriff bevorstand. Es war unheimlich.» Und natürlich war alles rationiert. «Diese Zeit hat meine Generation geprägt, wir wissen heute vieles zu schätzen, das eben nicht selbstverständlich ist, auch wenn man es glaubt.» Heidi Zingg selber hat in jener Zeit Zivildienst geleistet, war Chefin im Bereich «Obdachlose». «Ig weiss aber hüt no nid, was ig eigentlech für ne Ufgab gha hätti, wenn…» Apropos Zivildienst: Sie schätzt die, wie sie sie selber nennt, «Zivis» sehr, die jungen Männer, die heute ihren Dienst anstatt an der Waffe zum Wohl von alten Menschen in Heimen leisten. «Das sy alles ganz ufgschtellti Lüt, Gueti!». Auch mit bald 95 Jahren hat Heidi Zingg eine ausschliesslich positive Einstellung zum Leben. Respekt, von ihr könnten viele Zeitgenossen einiges lernen.
Lustig sind die Geburtsjahre in der Familie Zingg-Kauer, allesamt in Schaltjahren: Vater und Mutter wurden schon beide in einem solchen geboren, die Kinder Hansjörg, Veronika und Madeleine 1944, 1948 und 1952. Heidi Zingg zählt heute 9 Grosskinder und 6 Urgrosskinder. «Sie glauben gar nicht, wie viel Freude ich an diesen Urgrosskindern habe, obwohl ich sie natürlich nicht mehr hüte wie seinerzeit ihre Eltern», lacht sie.
Mit den Frauen, für die Frauen
Heidi Zingg ist in den Sechzigern und Siebzigern aktives Mitglied beim «Gemeinnützigen Frauenverein Thun». Dieser wiederum stellt zwei Mitglieder im Stiftungsrat der «Wohnungsfürsorge für betagte Einwohner der Stadt Thun», der heutigen «WiA – Wohnen im Alter Thun». Präsident des Stiftungsrates ist 1966 von Amts wegen Stadtpräsident Emil Baumgartner. Vizepräsidentin und Vertreterin des «Gemeinnützigen Frauenvereins» eine gewisse «Zingg-Kauer Heidi, Hausfrau, Thun». Liebe Leserin, Sie werden sich jetzt vorstellen können, was Heidi Zingg alles über die Anfangszeit der Stiftung im Allgemeinen und über die «Sonnmatt» im Besonderen zu erzählen weiss. Sie war während Jahren auch Präsidentin der Heimkommission «Alterssiedlung Sonnmatt» und erinnert sich noch an das eine oder andere Episödchen aus den ersten Jahren der «Sonnmatt».
Unsere heutige «Sonnmatt»-Bewohnerin engagierte sich aber auch über die «Sonnmatt» hinaus für Anliegen, die ihr wichtig waren. Und bringt es beispielsweise gemeinsam mit Gleichgesinnten zustande, dass sich aus den 13 Vereinen auf dem Platz Thun, in denen Frauen mitwirken, die «Frauenzentrale Thun» bildet, die sich für die Anliegen der Frauen einsetzt. Welche Bedeutung ein solches Engagement hatte, wird klar, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass zur Zeit der Gründung Frauen hierzulande noch kein Stimmrecht hatten.
150000 Franken für alte Menschen
Eine Aktion des «Gemeinnützigen Frauenvereins Thun» blieb Heidi Zingg besonders im Gedächtnis haften, der «Samstagsbatzen». Was ist darunter zu verstehen? «Als ich einmal an einem Samstag in der Migros stand, kam mir der Gedanke, dass man bei jeder Kasse ein kleines, spezielles Kässeli aufstellen könnte, für freiwillige Spenden für Altersheime.» Gedacht, getan. Innert weniger Wochen bringt sie es fertig, dass die Firma «Hoffmann» Hunderte gelber Spendenkässeli gratis (!) herstellt, der Gemeinderat und der «Handels- und Industrieverein» ihr Einverständnis geben – und schon bald darauf stehen in den Thuner Geschäften an Samstagen überall die kleinen gelben «Kässeli», die spätestens am Montag geleert werden. Der langen Rede kurzer Sinn: Nach zwei Jahren haben die «Gemeinnützigen Frauen» 150000 Franken gesammelt, die sie gezielt für Anliegen und Anschaffungen in den Altersheimen in Thun einsetzen. Übrigens nicht ganz zur Freude aller: Betreiber von Blumengeschäften beklagten sich, weil viele Leute nach einem Todesfall nicht mehr Blumen aufs Grab legen, sondern der Aktion «Samstagbatzen» spenden…
Reisen in die Ferne
Heidi Zingg liebt Sprachen über alles, lernte Spanisch, «weil einer meiner Brüder eine Frau aus Südamerika in die Schweiz brachte und ich mich mit ihr weder auf Italienisch noch mit Händen und Füssen verständigen konnte.» Deutsch, Französisch und Italienisch sprach sie da bereits. Diese Art von Völkerverständigung geht aber noch weiter: Da Frau Zingg sich auf Spanisch verständigen kann, geht es nach der Pension ihres Mannes zu zweit auf verschiedene Reisen in spanischsprachige Regionen, zum Beispiel nach Südamerika. Die Reise 1988 hält sie in Wort und Bild fest, schafft nach ihrer Rückkehr wunderschöne Reisealben. Weil das Ehepaar Zingg auch Wanderungen in Griechenland unternimmt, lernt Heidi Zingg später Neugriechisch und für eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok auch wichtige Grundbegriffe auf Russisch. «Ich konnte soweit Russisch, dass ich einer Angestellten einmal erklären konnte, sie solle die Toilette nicht abschliessen, ich hätte Durchfall…»
Im Laufe der Jahre macht sich eine heimtückische Krankheit bei ihrem Mann bemerkbar, sodass sie sich 1989 gezwungen sehen, das Haus an der Mattenstrasse zu verkaufen, um in eine kleinere Wohnung zu ziehen. Verschiedene Interessenten meldeten sich bei den Zinggs. «Ein Ehepaar mit einem kleinen, ‹härzigen› Meitli hat uns besonders gefallen», blickt sie zurück, «aber das Haus war ihnen zu teuer. Wir haben ihnen dann erklärt, weshalb wir verkaufen müssen.» Man kommt ins Gespräch, erfährt, dass die besagte Familie im siebten Stock eines Blocks am Meisenweg 26 in Thun wohnt, mit grossartiger Aussicht auf Eiger, Mönch, Jungfrau und Thunersee. Es kommt, wie es kommen muss: Die Wohnung wird mit dem Haus getauscht! Das ist möglich, weil die Zinggs der Familie mit dem Preis des Hauses entgegenkommen. «Die ‹Zügelete› war besonders originell. Sowohl an der Mattenstrasse als auch am Meisenweg haben wir einen Keller freigehalten, sodass mit jeder Zulieferung an die Mattenstrasse ein Warenrücktransport an den Meisenweg stattfinden konnte.»
Die Überraschung der Pflegerin
2002 stirbt Heidi Zinggs Ehemann, nach Jahren aufopfernder Pflege. «Es war eine Erlösung, für uns beide», sagt sie mit trauriger Stimme.
Insgesamt 26 Jahre verbringt Heidi Zingg am Meisenweg, bis zu jenem fatalen 15. März dieses Jahres, als sie stürzt und sich einen Halsschenkel bricht. «Ein Zurück an den Meisenweg war unmöglich, also habe ich mich entschieden, hierher zu kommen, so ganz und gar unbekannt ist die ‹Sonnmatt› für mich ja nicht», erzählt Heidi Zingg mit einem Schmunzeln. Und: «Am Sonntag schaut jeweils ein guter Bekannter von mir zum ‹Zmittag› vorbei, mit einer Betreuerin. Nach dem Essen gehen wir auf mein Zimmer, diskutieren und… schlafen dabei auch schon mal ein. Kürzlich ist uns das passiert. Sie können sich ja vorstellen, welch grosse Augen eine Pflegerin hatte, als sie bei mir zum Rechten geschaut hat, wir drei sozusagen in einem Sleep-In…»
Fehlt ihr in der Sonnmatt etwas? «Ja, schon. Beim Ausräumen meiner Wohnung am Meisenweg landeten irrtümlich viele Fotoalben im Altpapier. Schade.» Sprichts und erklärt dem Schreibenden: «Ich will aber nicht klagen. Kommen Sie, ich lade Sie zu einer Apfelschorle in die Cafeteria ein.» Auf dem Weg dorthin stützt sie sich auf ihrem schwarzen Rollator ab. Die Frage sei erlaubt: Weshalb gibt es diese Gehhilfen eigentlich nur in schwarzer Farbe, weshalb nicht eine fröhliche Lackierung, im erfrischenden Ferrrarirot zum Beispiel? Jede Wette: Wäre sie einige Jährchen jünger, Heidi Zingg würde in farbige Produktion einsteigen, sicher mit Erfolg.