Was wir Erwachsenen von den Kindern lernen können
Was wir Erwachsenen von den Kindern lernen können
Zwei- bis dreimal im Monat trifft sich ein ganz spezielles Trüppchen im Hohmadpark Thun: Buebe und Meitschi der Kindertagesstätte Kita besuchen alte Menschen bei «Wohnen im Alter» (WiA), singen mit ihnen, hören gemeinsam Geschichten, essen zusammen ein Zvieri oder Znüni.
Text: Thomas Bornhauser | Fotos: Thomas Bornhauser, zvg.
Wie sich die Zeiten ändern: Mitte der siebziger Jahre ist die Rede davon, den Bonstettenpark in Thun zu überbauen. Unter anderem sollen dort Alterswohnungen entstehen. Das Vorhaben der Initianten scheitert frühzeitig, nicht zuletzt deshalb, weil nach «modernen Erkenntnissen» das Bewohnen von Hochhäusern durch Familien mit Kindern abgelehnt wird. Auch sei zweifelhaft, ob sich alte Leute im Alltag dem Geschrei von Kindern aussetzen wollen.
Alles unter einem Dach
Heute zeigen die besagten «modernen Erkenntnisse» ein ganz anderes Bild. Ein Bild, das Unternehmer Walter Hauenstein im Hohmadpark bereits viele Jahre vor seinem Ableben hatte und das durch seinen Sohn Peter umgesetzt wurde: ein Generationenquartier, in dem Kinder, Eltern, Grosseltern und sogar Urgrosseltern gemeinsam leben. Ein Modell, das – wenn auch in anderer Form – in Bern umgesetzt wurde, beim Umbau des Burgerspitals. Dort findet man heute im «Berner Generationenhaus» Anlaufstellen unter anderem vom «Checkpoint für Kinder- und Familienservice», eine Mütter- und Väterberatungsstelle, die «Pro Senectute» oder die «Alzheimervereinigung». Alles unter einem Dach.
Zurück nach Thun. Die Feststellung von
Livia Luginbühl, Kita-Leiterin, dass sich
die beiden Generationen auf das Treffen
an diesem Nachmittag freuen, zeigt sich nur wenige Minuten später, als die ersten älteren Menschen im Saal eintreffen, bereits 45 Minuten vor dem eigentlichen Termin. Helena Lipari, Fachfrau für Aktivierung und Alltagsgestaltung bei WiA im Hohmadpark, nimmt die Bewohnenden mit einer herzlichen Begrüssung in Empfang. Falls die Leute trotz des zuvor bereits frühzeitig und persönlich verteilten Programms Fragen haben, beantwortet sie diese mit einem Lächeln, damit die Menschen wissen, wie der Ablauf der Veranstaltung sein wird: «Frau Mader wird Ihnen eine Geschichte vorlesen.» Gabriela Mader ist Kleinkindererzieherin bei der Kita Hohmadpark.
Natürliches Selbstverständnis
Im Konzept und Elternreglement der Kindertagesstätte Hohmadpark Thun steht an erster Stelle zu lesen: «Wir sind ein Ort der Begegnung verschiedener Generationen. Der Umgang zwischen verschiedenen Generationen und Kulturen ist bei uns selbstverständlich und von gegenseitiger Achtung und Anteilnahme geprägt.» Die Kita Hohmadpark ist also ganz bewusst ein Begegnungsort, wo soziale Kontakte geknüpft werden und neue Strukturen im Zusammenleben entstehen. Dadurch wird ein besseres Verständnis angestrebt. Diese Denkweise geht über die Besuche in den Räumen von WiA hinaus: Die Kita steht ebenfalls betagten Menschen, Senioren und freiwilligen Helfern aus dem ganzen Quartier offen. Sie können vorbeikommen und mit den Kindern ein Stück Alltagsleben gestalten. Das alles soll freiwillig und in einem ungezwungenen Rahmen geschehen.
Livia Luginbühl: «Wir sehen auch ältere Menschen, die in unserer Nähe sitzen und uns einfach aus einer gewissen Distanz beobachten.» Und mit einem Lachen fügt sie hinzu: «Wenn es die Aussentemperaturen und Wetterbedingungen erlauben!»
Nach und nach beginnt sich der Saal zu füllen. Die älteren Menschen – bis zum Schluss werden es gegen 20 sein, die sich heute Nachmittag einfinden – bilden mit ihren Stühlen und Rollstühlen einen Kreis. Kurz vor 15 Uhr treffen die Kleinen mit ihren Betreuerinnen ein, lachend, aber auch mit spürbarem Respekt den alten Menschen gegenüber, die sie auch einmal sein werden. Die Kinder – sie sind zwischen zwei und acht Jahre alt – nehmen in der Mitte des Kreises Platz, wo auch ein herbstlich dekorierter Tisch steht. Erstaunlich: Da ist kein Gerangel, wer jetzt neben wem sitzen will, fast so, als wolle man den Bewohnerinnen und Bewohnern des Hohmadparks zeigen, dass man schon als Kind Anstand hat.
Einige Minuten später beginnt Gabriela Mader mit dem Vorlesen des Kinderbuches «Was leuchtet in der Nacht?»: Eines Nachts entdeckt der Maulwurf den Mond. «Was auch immer das ist, ich muss es haben», denkt er und versucht alles, um den Mond vom Himmel zu holen. Nachdem er sogar auf einen Baum geklettert ist und herunterfällt, entdeckt er den Mond in einer Pfütze, doch als er ihn aufheben will, zerbricht er. Der Maulwurf ist verzweifelt und weint, weil er den Mond kaputtgemacht hat. Doch seine Freunde zeigen ihm, dass der Mond immer noch am Himmel hängt, und erklären, dass man ihn nicht herunterholen, sondern nur aus der Ferne bewundern kann. Es ist eindrücklich, wie Kinder und Erwachsene Gabriela Mader gleichermassen zuhören, nicht zuletzt deshalb, weil sie laut, langsam und verständlich vorliest. Gleichzeitig zeigt sie den Anwesenden immer wieder die Bilder aus dem Buch.
Von Seifenblasen und Zimmerbesuchen
Die Vor- und Nachmittage bei WiA im Hohmadpark – 32 alte Leute finden hier Betreuung und Pflege – sind nicht schon allein deshalb nicht langweilig, weil die verantwortlichen Frauen das Programm individuell gestalten, je nach Jahreszeit, je nach Wetter. Im Sommer kann es deshalb schon einmal vorkommen, dass kleine und grosse Seifenblasen durch die Parkanlage schweben, weil man gemeinsam «Seifeblaatere» bläst. Besonders eindrücklich ist, wenn die Kinder jene Bewohnerinnen und Bewohner, die nicht an den Veranstaltungen teilnehmen können, in ihren Zimmern besuchen. «Das Leuchten in den Augen der Menschen sagt in solchen Situationen mehr als tausend Worte», sagt Helena Lipari. Man glaubt es ihr, ohne nachzufragen. Die Bewohnenden sind nicht selten zu Tränen gerührt und weinen vor lauter Freude, dass die Kinder sie besuchen kommen und auch noch selber gebackene Guezli als Geschenk mitbringen.
Es sei erstaunlich, so Livia Luginbühl, mit welcher Selbstverständlichkeit die Kinder auf die alten Menschen zugehen, wenn diese still auf einem Stuhl in einer Ecke sitzen, und ihnen ein Lächeln aufs Gesicht zaubern. Die Kinder haben keinerlei Berührungsängste, geben den zum Teil über 90 Jahre alten Menschen die Hand, reden mit ihnen. Und wir Erwachsenen merken: Von unseren Kindern kann man sehr viel lernen, nicht nur in Bezug auf den Umgang mit älteren Menschen.
«Seifeblääterle» bereitet Gross und Klein viel Spass!
«Besonders beliebt in dieser Runde ist das gemeinsame Singen, wobei Lieder ausgewählt werden, die alle kennen», sagt Melanie Rütti und ergänzt, «die alle noch kennen.» Höhepunkt dieser Zusammentreffen bildet jeweils das gemeinsame Znüni oder Zvieri, an denen die Kinder mit ihrer natürlichen Sorglosigkeit den Älteren aus ihrem Alltag erzählen, oftmals so schnell, dass man sie kaum versteht. «Muesch es no einisch säge, u chly lüüter und langsamer», kommt dann jeweils von den Betreuerinnen. Aber auch die Bewohnenden haben den Kindern zu erzählen, aus ihrem eigenen Leben. «Wir erfahren in solchen Momenten von Erlebnissen, von denen wir gar nicht wussten», sagt Helena Lipari.
Dann und wann kommt es vor, dass die älteren Menschen von Erlebnissen erzählen, die sogar die Kinder nachvollziehen können, zum Beispiel wenn der Samichlous früher bei ihnen vorbeikam. «Dä isch o bi üs verbycho!», heisst es von drei Kindern gleichzeitig. Und so schliesst sich, dank des Sankt Nikolaus, der Kreis, der Lebenskreis. Wie schön, dass sich die «modernen Erkenntnisse» vor 40 Jahren als veraltet erweisen.