Kander: Klingende Flusslandschaft

Kander: Klingende Flusslandschaft

Kander: Klingende Flusslandschaft

Nur wer schon einmal mit geschlossen Augen einem winterlich kalten Gewässer zuhörte, kann verstehen, was Komponisten dazu bewegte, solch monumentale Werke zu schreiben, die noch heute die Herzen von Millionen Menschen erfreuen.

Text: Arthur Maibach  |  Fotos: zvg

Die Arbeiten zur Umleitung der Kander in den Thunersee ruhten während den Wintermonaten der Jahre 1711 bis 1714. Die Wasser des Flusses, dem ein neuer Weg aufgezwungen wurde, finden seit Jahrtausenden jedoch keine Ruhe. Diese Wasser, welche noch nie einen See «gesehen» hatten, flossen in ihrer von der Natur gegebenen Flusslandschaft der Aare entgegen. Zuvor jedoch vereinigten sich etliche Gewässer aus den unberührten Tälern des Gasterntals, welche sich in Frutigen bei der Engstlige-Mündung mit dem gleichnamigen Fluss verbinden, um sich in der Nähe vom Kapf mit der Simme zu treffen. Gemeinsam, nun mit dem Namen Kander, hatten sie sich ihren Weg gesucht, um den Boden zu bewässern, Menschen und Tieren das Leben zu ermöglichen und nach getaner Aufgabe bei Uttigen in die Aare zu fliessen, um sich mit ihr zu vermählen. Wasser, welches sich aus dem Alpetligletscher vom Kanderfirn zu flüssigem Wasser verwandelte und sich durch wunderschöne Landschaften windete, um zur kalten Winterzeit an den Fluss­ufern nochmals für einige Tage oder Wochen zu Eis zu werden. Wasser, welches sich nochmals in den Zustand verwandelt, in dem es seit Tausenden von Jahren, weit oben in den Bergen des Berner Oberland ausharrte und auf den richtigen Zeitpunkt wartete, um auf die grosse Reise zu gehen. Wasser, das ein letztes Mal noch Ruhe findet, bevor es sich auf den langen, kurzweiligen Weg zum salzigen Meer begibt. 

Das Wasser nimmt auf seiner Reise viele Erinnerungen mit, oft nur ganz wenige, wenn es still und ruhig in seinem Flussbett seinen Weg geht. Manchmal aber wird es sehr laut, oft im Frühling, wenn die Schneeschmelze und starke Regenfälle aus dem klaren silbrigen Gewässer einen schnellen, braunen, breiten Strom machen. Dabei legt er seine Erinnerungen ab und bildet aus dem mitgenommenen Geschiebe und Sediment seine Uferlandschaft. Eine Uferlandschaft, die nur die Natur so perfekt schaffen kann.  Die Gebirgszüge, die Bodenbeschaffenheit und die natürlichen Hügel gaben der Kander absolut keine Möglichkeit, an irgendeiner Stelle in den Thunersee zu fliessen. Sie hatte die Aufgabe, ein grosses Gebiet fruchtbar zu machen und bis zur Mündung in die Aare mit Wasser zu versorgen.


Gemeinsam, nun mit dem Namen Kander, hatten sie sich ihren Weg gesucht, um den Boden zu bewässern, Menschen und Tieren das Leben zu ermöglichen und nach getaner Aufgabe in die Aare zu fliessen.

Der Eingriff

Das Wasser kommt gut ohne den Menschen zurecht. Der Mensch aber braucht das Wasser, um zu leben. So wussten die Ägypter zur Zeit der Pharaonen schon, dass die Überschwemmung des Nil ein Segen war und dass nur mit diesem Strom das Leben möglich sein konnte. So stellten sie ihre Bauwerke in einem sicheren Abstand zum lebensspendenden Fluss. Die Kander wollte auch ein lebensspendender Fluss sein und die irdischen Lebewesen mit dem Kostbarsten, was es auf der Welt gibt, dem Wasser, versorgen. Da der Mensch aber die Fähigkeit besitzt, immer mehr zu wollen, seine Bedürfnisse in den Vordergrund stellt, machte er dem Lebensspender sein Terrain streitig und baute immer näher an den Fluss. Auch wollte er nicht verstehen, dass natürliche Wasser nicht nur Leben schenken, sondern auch Leben nehmen können, wenn man ihnen in die Quere kommt. So reifte eine Idee, den natürlichen, lebenswichtigen, am richtigen Ort fliessenden Fluss zu bändigen. Nicht nur zu bändigen, sondern umzuleiten. Ihm seine wichtigste Aufgabe zu entziehen und das lebenswichtige Wasser ins grosse Wasser, den Thunersee zu leiten. Ein Thema zu dem schon viel Wahres, aber auch viel Unsinn geschrieben wurde und bis zum heutigen Tag gewaltige Spuren und Kosten hinterliess. Aus der natürlichen, lebensspendenden Uferlandschaft wurde eine künstliche gemacht. Da aber, wo der Mensch ein neues Ufer schuf, nahm sich das Wasser seinen Teil zurück und baute ein neues, der Kander gerechtes Flussufer.

Der Mensch kann so viel planen und bauen wie er will, der Fluss sucht sich immer seinen eigenen Weg. Die Idee von Samuel Bodmer, dem Mühlenbesitzer und Schlossherrn von Amsoldingen, die Kander in den Thunersee abzuleiten, war sicher gut und überzeugte auch die Berner Regierung. Sein Nachfolger, Alt-Spitalmeister Samuel Jenner, begann 1713 nach bergmännischer Art mit einem Stollenvortrieb und am 2. Dezember 1713 floss zum ersten Mal ein Teil des Wassers durch den Stollen. Der Fluss war aber stärker, sodass am 18. August 1714 das Gewölbe über dem Stollen einbrach und sich die noch heute sichtbare Kanderschlucht bildete.


Winterflusslandschaft

Seit nun über 300 Jahren ist die Kander um viele Kilometer kürzer und hat weniger Uferlandschaft zum Bestaunen. Jedoch ist das, was sich das Wasser zurückgeholt hat, von extremer Schönheit. Besonders im Winter, wenn sich das Licht mit der tiefen Temperatur vereint, bekommt die Kanderschlucht in Einigen etwas Mystisches. Etwas, das Ruhe und Frieden ausstrahlt. Diese Ruhe findet sich in jedem gefrorenen Tröpfchen an vielen vereinzelten, trockenen Halmen, welche in der klaren Wintersonne wie Diamanten funkeln. Das eiskalte klare Wasser der Kander sucht seinen Weg um kleine Steine und grosse Brocken mit einem zarten und lieblichen Gesang. Jeder Stein, jedes Ästchen und jeder Kiesel, der umschmeichelt wird, gibt seinen einzigartigen Ton von sich. Die festen Gegenstände im und am fliessenden Gewässer sind die «Saiten» und das liebliche Wasser zieht wie ein «Bogen» darüber und entlockt allem einen klaren und richtigen Laut, der sehr leise und lieblich zu einer Wassermelodie wird. Mit solchen scharfen, klirrenden, klingenden Tönen kann nur reines, sauberes, frisches Wasser auf seinem Weg vom Gletscher zum See die Herzen der Zuhörer erfreuen. Die winterliche Uferlandschaft dringt nicht nur durchs Auge, sondern auch durch das Gehör in die Seele des Betrachters oder Zuhörers. Wie unterschiedlich doch so ein Gewässer tönt, kann nur der erfahren, der sich Zeit und Ruhe gönnt, mit geschlossenen Augen den verschiedenen Melodien des Wassers zu horchen. Sei es das leise Gurgeln unter einer dünnen Eisdecke, das Umschweifen um grosse und kleine abgerundete Steine oder das Mittragen von kleinen Eisscheiben, die beim Aufschlagen immer kleiner werden und den Gesang des Flusses zu einer natürlichen Sinfonie verwandeln. Einer Sinfonie, die keine Notenblätter und keinen Dirigenten braucht, jedoch den Horcher in eine andere Sphäre hebt und die Seele trotz der eisigen Kälte erwärmt. Eine Wärme, die aus der Kälte kommt und jedes Eis in möglicherweise verstockten Herzen zum Schmelzen bringt. Die wahre Schönheit der winterlichen Flusslandschaft sieht man auch mit geschlossenen Augen. Wenn sich aber die Augen öffnen und sich das Gehörte mit dem, was man zu sehen bekommt, vermählt, fühlt man sich für eine bestimmte Zeit wie im Paradies.

Mit solchen scharfen, klirrenden, klingenden Tönen kann nur reines, sauberes, frisches Wasser auf seinem Weg vom Gletscher zum See die Herzen der Zuhörer erfreuen.

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