Ein Herz für Burgen und Schiffe
Ein Herz für Burgen und Schiffe
Ein Herz
für Burgen
und Schiffe
Seit seiner Kindheit schlägt Erich Liechtis Herz für historische Stätten und Schiffe – im Besonderen für die Burg- stellen im Simmental und die öffentliche, maschinengetriebene Schifffahrt der Schweiz. Doch auch abseits davon ist der 81-Jährige ein spannender Zeitgenosse.
Mitten im schmucken Wimmis, an der Kreuzung von Bachtelestrasse und Oberdorfstrasse, besticht das sogenannte Sarbach’sche Ladenhaus durch einen prächtigen Garten und einen fantastischen Blick auf Kirche und Schloss. Das denkmalgeschützte Gebäude von 1710 wüsste vermutlich die eine oder andere spannende Geschichte aus früheren Tagen zu erzählen. Unbestritten hingegen sind die Erzählkünste von Erich Liechti, der in ebendiesem Haus aufwuchs und seit 1999 mit seiner Frau Margreth wieder darin wohnt. Seine Eltern führten im Erdgeschoss einen kleinen Laden, in dem von Büstenhalter bis Schweinefett so ziemlich alles erhältlich war, wie der 81-Jährige schmunzelnd berichtet. Das «Angebot» hat sich inzwischen deutlich gewandelt – in den Räumlichkeiten präsentieren sich nun rund ein Dutzend filigrane Schiffsmodelle, die der Wimmiser über Jahrzehnte hinweg in mühevoller, minutiöser Handarbeit geschaffen hat.
Prägende Kindheitserlebnisse
Erich Liechtis Leidenschaft für das Bauen von Schiffsmodellen und seine Faszination für die Schifffahrt der Schweiz gehen bis in die frühe Kindheit zurück. «Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich als kleines Kind zusammen mit meiner Mutter zu Fuss nach Spiez lief und dort ein Dampfschiff oder die MS Niesen nach Thun bestieg. Diese Erlebnisse auf dem Thunersee haben mich geprägt und mein Interesse für Schiffe geweckt.» Weiter genährt wurde dieses Interesse mit Text- und Bildbänden über den Zweiten Weltkrieg. «Als Schulbub war ich fasziniert von den riesigen Kriegsschiffen, die ich in den Büchern meines Vaters sah. Ich baute die Flotten mit Holzklötzen nach – und im Dorfbrunnen fanden fortan Seegefechte statt», erzählt Erich Liechti lachend. Mittlerweile ist im Dorfbrunnen Frieden eingekehrt, und die rudimentären Kriegsschiffe sind komplexen, detailgetreuen Modellen von öffentlichen, maschinengetriebenen Schiffen der Schweiz gewichen. Sein Vater und dessen Bücher haben auch Erich Liechtis zweites grosses Hobby massgeblich beeinflusst: «Ich weiss noch ganz genau, wie ich an einem regnerischen Sonntagmorgen mit meinem Vater auf dem Sofa sass und wir zusammen ein Buch durchblätterten. Plötzlich entdeckte ich darin einen Abschnitt über die Burganlage Grafenstein bei Oey. Wir sind sofort losgefahren und haben uns die Ruine angeschaut. An diesem Tag hat mich mein Vater mit dem Virus für Burgen angesteckt.» 1954 trat er als erst 13-Jähriger dem Schweizerischen Burgenverein bei, zu dessen Mitgliedern auch der Fürst von Liechtenstein zählt, wie Erich Liechti nicht ohne Stolz erwähnt. Der Vereinsbeitritt eröffnete dem Geschichtsinteressierten neue Horizonte und machte ihn mit der wissenschaftlichen Untersuchung historischer Bauten und Burgruinen vertraut. Und die systematische Auseinandersetzung mit den Simmentaler Burgstellen entwickelte sich nach und nach zu einem zentralen Bestandteil seines Alltags. Beruflich wurde aus dem Burgenfan jedoch weder ein Archäologe noch ein Historiker, sondern ein Architekt. «Meine Eltern wünschten sich eigentlich, dass ich Pfarrer werde, sie sahen aber ein, dass aus mir wohl kein Geistlicher wird», erwähnt Erich Liechti lachend. Schliesslich absolvierte er eine dreijährige Ausbildung zum Bauzeichner und besuchte dann einen Vorbereitungskurs in Bern, um am Kantonalen Technikum in Burgdorf studieren zu können. Im dritten Semester unterbrach er sein Architekturstudium, und es folgten drei Jahre Militär. Nach der Offiziersschule kehrte er zurück ans Technikum, wo er im März 1966 sein Diplom als Architekt erhielt.
Während seiner gesamten Ausbildungs- und Militärzeit betrieb Erich Liechti umfangreiche Feldforschungen im heimischen Simmental. So suchte er ab 1960 vergessen geratene Burgstellen systematisch auf, um sie grob zu vermessen, zu dokumentieren und zeichnerisch zu erfassen. Unterstützung erhielt er von seinem Vater und einigen Militärkollegen aus der Region, die sich ebenfalls für das Thema interessierten. Die jahrelangen Recherchen resultierten unter anderem in einem Buch über die rund 50 Simmentaler Burgen, Schlösser und Ruinen, das 2021 erschienen ist. «Heute ist von Burgen und Schlössern teilweise kaum noch etwas zu sehen, entsprechend gering ist das Interesse daran. Das hat mich dazu motiviert, gestützt auf historische Dokumente und wissenschaftliche Erkenntnisse einen möglichen Bauzustand dieser Stätten zeichnerisch festzuhalten.» Er erhofft sich so, das Thema anderen Menschen näherzubringen und Wissen über die Vergangenheit zu bewahren. Es überrascht daher kaum, dass sich der 81-Jährige, der eng mit Wimmis und der Region verbunden ist, auch als Lokalhistoriker betätigt und sich mit weiteren geschichtlichen Ereignissen wie dem Waldbrand an der Simmenfluh von 1911 beschäftigt.
Eine Postkarte mit Folgen
Als neu diplomierter Architekt, frisch Vermählter und werdender Vater zog Erich Liechti im Frühling 1966 mit seiner Ehefrau Margreth nach Hilterfingen. «Plötzlich ging alles ganz schnell. Umzug, Heirat, Schwangerschaft, Arbeitsbeginn. Am Freitag schloss ich mein Studium ab, und am Montag trat ich in Oberhofen schon meine Stelle bei der Firma Frutiger an.»
1966 wurde in vielfacher Weise zu einem prägenden Jahr für den damals 25-Jährigen – er entdeckte nämlich auch seine Liebe zu Schiffen wieder. «Ich begleitete meine Frau auf ihrer Einkaufstour, und vor dem Einzelhandelsgeschäft Zum Merkur fielen mir wunderschöne Ansichtskarten der Dampfschiffe Beatus und Bubenberg ins Auge. Plötzlich kam der Wunsch auf, zu Hause nicht nur eine Postkarte, sondern auch ein Modell der ‹Beatus› aufzustellen.» Nach diesem ersten Schiffsmodell folgte ein zweites, und schliesslich noch exakt 140 weitere. Die handwerklichen Fähigkeiten dafür hatte der Wimmiser im Studium erworben, und mit jedem Schiff sammelte er wertvolle Praxiserfahrung.
Um die Schiffe im Massstab 1:50 detailgetreu nachzubauen, verbringt der Modellbauer unzählige Stunden damit, Archive zu durchstöbern, alte Dokumente zu sichten und Baupläne zu rekonstruieren. Bevor er mit dem eigentlichen Bau beginnt, stellt Erich Liechti sehr viele Überlegungen an und betreibt einen immensen Rechercheaufwand, gleichzeitig hört er aber auch auf sein Bauchgefühl und verlässt sich auf seine beträchtliche Erfahrung. Er wendet für jedes Modell 100 bis 300 Stunden für die Vorbereitungen und nochmals so viele Stunden für den Bau auf. Wohlgemerkt: Der Grossteil seiner 142 Modelle ist entstanden, während Erich Liechti voll berufstätig war. Und es handelte sich kaum um eine 08/15-Arbeitsstelle, denn sie brachte ihn von 1983 bis 1997 rund um die Welt. So zeichnete der Architekt bei Frutiger International unter anderem dafür verantwortlich, Schweizer Botschaften und Konsulate terrorsicher zu machen. Seine unzähligen Auslandsaufenthalte in total 23 Staaten – darunter Grossbritannien, Kamerun, Russland, Iran und Saudi-Arabien – beschreibt Erich Liechti als sehr eindrücklich. «Die Erfahrungen dieser 14 Jahre haben mich geprägt, ich habe sehr viel erlebt und gesehen. Dennoch wünschte ich rückblickend, dass ich etwas weniger in meinem Job aufgegangen wäre und die einzelnen Länder noch mehr entdeckt hätte.» Dass er wegen seiner Leidenschaft für Burgen und Schiffe kaum Zeit für andere Hobbys hatte, scheint ihn hingegen nicht zu stören. So gesteht der Wimmiser lachend: «Ich habe zum Beispiel noch nie einen Fussballmatch live gesehen, und Margreth muss immer noch darauf warten, dass ich ihr mal im Garten helfe.» Denn auch nach über 60 Jahren begeistert sich der Rentner für seine zwei Steckenpferde – und könnte sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen. «Das Schiffsmodellbauen regeneriert und erfüllt mich. Mein grosser Wunsch ist es, 200 Modelle gebaut zu haben, aktuell arbeite ich am 143. Schiff.»
Ausstellung im Schloss Hünegg
Als Nebenprodukte seines jahrzehntelangen Schiffsmodellbauens sind in Fachkreisen anerkannte Publikationen zur Schifffahrt in der Schweiz und ein umfangreiches Archiv mit teils sehr wertvollen Dokumenten, Bildern und Plänen entstanden. Während Erich Liechti diese Unterlagen und einige Memorabilia bei sich zu Hause in Wimmis aufbewahrt, sind die meisten seiner beeindruckenden Modelle 2021 als Schenkung in den Besitz des Vereins Schiffsammlung Erich Liechti übergegangen. Dieser stellt seit Mai 2023 30 Modelle von Schiffen des Thuner- und Brienzersees sowie ergänzende Materialien im Schloss Hünegg öffentlich aus. Die restlichen Modelle lagern in Archivräumen der Gemeinde Hilterfingen und warten darauf, in einer späteren Ausstellung präsentiert zu werden. «Ich bin mit dieser Lösung absolut zufrieden, denn so wird die Geschichte der Schweizer Schifffahrt einem grösseren Publikum zugänglich gemacht.» Und wer weiss: Vielleicht löst ein Besuch der Sammlung bei jemandem die gleiche Faszination aus wie 1966 die Postkarte der «Beatus» bei Erich Liechti.