«Oh, diese lästigen Autogrammjäger!»

«Oh, diese lästigen Autogrammjäger!»

«Oh, diese lästigen Autogrammjäger!»

Das Motorschiff Oberhofen ist nicht das grösste Schiff auf dem Thuner- see. Und auch nicht das bekannteste. Sein Schicksal ist aber – vielleicht mit Ausnahme des Dampfschiffs Blümlisalp – so wechselhaft wie bei keinem anderen Schiff. Nach dem drohenden Verkauf fährt es nun ab diesem Herbst wieder auf dem Thunersee.

Text: Dr. Jon Keller, Historiker |  Fotos: Stadtarchiv Thun, zvg

in strahlender Sommermorgen mit viel Sonnenschein kündigt sich an, und die Vögel im Grüsisbergwald zwitschern ihr Konzert, als Johannes Brahms, der Wiener Komponist, morgens um 7 Uhr sein Tagewerk beginnt. Seit Mai 1886 ist er glücklich in einer schönen Wohnung in Thun-Hofstetten domiziliert, im ersten Stock der Liegenschaft von Kaufmann Spring, unmittelbar an der Aare und mit stupendem Blick auf die erhabene Stockhornkette und zur jahrhundertealten Kirche Scherzligen. Die Wohnung ist geräumig, umfasst sie doch sechs Zimmer mit vielen Betten, sodass auch Besucher ohne Weiteres empfangen werden können. Brahms braut sich mit seiner Kaffeemaschine, die er sich aus Wien nach Thun senden liess, einen guten Kaffee. Denn zu seinem Morgenessen gehört eben ein exquisiter Kaffee, an den er sich nun mal in den Kaffeehäusern in der Hauptstadt der habsburgischen Doppelmonarchie gewöhnt hat. Mit Verlaub: Der Kaffee, der in Thuner Gaststätten gereicht wird, ist – horribile dictu – ganz und gar nicht nach dem Geschmack von Brahms und kaum trinkbar. Brahms ist sehr zufrieden mit seinem Thuner Logement, denn in Briefen wird er nicht müde, zu betonen, er habe eine reizende Wohnung – ja selbst von der schönsten Wohnung schreibt er begeistert. Briefe gehen in der Tat leicht von seiner Feder, und zahlreich sind die Epistel, die von Thun nach Österreich gesendet werden. 


Ausruhen im schönen Thun

Aber nicht nur die Wohnung behagt Brahms sehr – nein, auch vom kleinen Städtchen am Ausfluss des Thunersees ist er angetan. So kommt es nicht von ungefähr, wenn er in einem Brief, der nach Österreich abgeht, schreibt: «Es sitzt sich so schön und behaglich in dem lieblichen Thun.» Das tönt formidabel und lobende Worte über Thun finden sich auch in einem anderen Schreiben: «Ich bin für den Sommer nach dem ganz überaus reizenden Thun geraten.» Überaus reizend – das kann ja kaum übertroffen werden. Was Brahms besonders schätzt: Im beschaulichen Thun fehlt jede Hektik. So ist es natürlich kein Zufall, wenn er in einem anderen Brief weitere Lobesworte über Thun findet: «Ausruhen – das kann man in Thun ganz herrlich, und sie werden in einem Tag gar nicht fertig mit Ausruhen.» Wenn diese Feststellung nicht zu Ferien in Thun anregt!


Morgenstund hat Gold im Mund

Morgenstund hat Gold im Mund, das weiss auch Johannes Brahms. So ist der Morgen intensiver Arbeit an seinen musikalischen Kompositionen gewidmet. Die musikalische Ernte, hervorgegangen aus den drei Thuner Sommern, lässt sich sehen und ist für Brahms mit tiefer Befriedigung verbunden: unter anderem zwei Sonaten für Pianoforte und Violoncello, op. 99, und für Pianoforte und Violine, op. 100. Zudem gibt er dem Konzert für Violine und Violoncello, op. 102, den letzten musikalischen Schliff. Beste Dienste leistet ihm dabei ein Pianino, das ihm von der Pianofabrik Burger & Jacoby in Biel in freundlicher Weise und natürlich unentgeltlich leihweise überlassen wird. Für die Pianofabrik selbstredend eine grosse Ehre, und die Tatsache, dass der grosse Johannes Brahms auf einem Burger-Instrument spielt, wird, was kaum erstaunt, propagandistisch ausgeschlachtet. Wie sozusagen jeden Morgen, wenn das Wetter seine freundliche Seite zeigt und kein Regenwetter herrscht, was nicht selten zum Unmut von Brahms führt, unterbricht er seine musikalischen Studien, um einen kurzen Spaziergang Aare-aufwärts Richtung Bächimatte und Thunersee zu unternehmen. Denn, dessen ist er sich sehr wohl bewusst, bei einem Spaziergang fallen ihm oft tragende Melodien ein. Der Blick zur jahrhundertealten Kirche Scherzligen und zum Oberen Aareinseli, wo der von ihm verehrte Dichter Heinrich von Kleist 1802 und 1803 eine fruchtbare Schaffensperiode erlebte, gefällt ihm immer und immer wieder. 


Erfrischendes Thuner Bier

Bei guter Witterung lässt es sich Brahms nicht nehmen, sich in der Buvette am Aareufer bei der Bächimatte ein kleines Glas Bier als Frühschoppen zu genehmigen. Notabene Thuner Bier, das in der bereits um 1800 gegründeten Thuner Bierbrauerei Feller gebraut wird. Per Zufall lernt Brahms sogar den Patron selbst kennen, Gottfried Feller, dem er gerne ein Lob spendet für sein Thuner Bier, auch wenn es doch etwas anders als sein gewohntes Bier aus Wien mundet. 


Die Besteigung des Niesens – ein Abenteuer

Heute ist es ein eher mühsamer Spaziergang, denn Brahms verspürt einen grässlichen Muskelkater in seinen Beinen. Das kommt nicht von ungefähr, denn vor zwei Tagen hat er gemeinsam mit Landgerichtsrat Thomsen aus Hamburg, seiner Geburtsstadt, den Niesen bestiegen. Ja, fürwahr, es war ein sehr beschwerlicher Aufstieg, per pedes und bei vollem Sonnenschein.  Zu allem Unglück verfehlte man zeitweise noch den Weg, was bei Brahms die Stimmung auf den Nullpunkt sinken liess. Als dann aber endlich, endlich der Niesengipfel erreicht war, liess die prächtige Aussicht auf den Thunersee und Richtung Alpen mit Eiger, Mönch und Jungfrau alle erduldete Mühsal vergessen, denn der wunderschöne Rundblick entschädigte für alle ausgestandenen Anstrengungen. Wieder im Talboden bei Wimmis angekommen, wurde tüchtig der Durst gestillt mit einem, vielleicht auch zwei Bierchen, wer weiss.


Im lauschigen Freienhofgarten

Sein Mittagsbrot nimmt Brahms, bei gutem Wetter, im lauschigen, baumreichen Garten des Gasthofs Freienhof ein. Gerne erinnert er sich dabei an einen gemütlichen Abend im Freienhofgarten, als dort  eine durchreisende Kapelle konzertierte. Der Dirigent war über die Anwesenheit Brahms’ in Thun informiert, weshalb er einige seiner ungarischen Tänze spielte, was Brahms mit grosser Genugtuung und mit warmem Applaus verdankte. Hier fühlt er sich wohl und ungezwungen, denn Mahlzeiten an einer steifen Table d‘ Hôte in dezenter, angemessener Kleidung, so etwa in den renommierten Thuner Hotels Bellevue und Thunerhof, sind nicht nach seinem Gusto.


Kein Modefreak

Seiner Alltagskleidung schenkt Brahms keine allzu grosse Beachtung. Ein Modefreak ist er beileibe nicht. Er hasst es, gross Kleidertoilette machen zu müssen, und liebt es, sich in Thun in einfachem Tenue zu ergehen. Ganz im Gegensatz zu Wien, wo gediegene Kleidung mit Hemd und angeknöpftem weissem Kragen («Vatermörderkragen») an der Tagesordnung ist. In Thun sieht man Brahms oft im derben Wollhemd und mit einem einfachen Plaid, also einer ärmellosen Schulterdecke. Auch den Filzhut trägt er mehr in der Hand als auf dem Kopf.


Ein strahlender Sommertag, der zu einem Ausflug einlädt. Kurz entschlossen beschliesst Brahms, eine gemütliche, beschauliche Schifffahrt mit dem Dampfboot auf dem Thunersee zu unternehmen, was für ihn keine Nouveauté ist, denn dank einem Generalabonnement für uneingeschränkte Fahrten auf dem Thunersee hat er schon einige Male eine Schifffahrt genossen. Auf dem Weg zur Freienhofländte begegnet ihm eine muntere Schar Kinder, denen er bisweilen – er ist ein grosser Kinderfreund – süsse Bonbons zuwirft, falls er solche in seiner Vestontasche findet, für die Jungmannschaft im doppelten Sinn ein «gefundenes Fressen». Aber leider, auch das muss gesagt sein: Dann und wann begegnen ihm auch unartige, unflätige Bengel, die auf der Strasse aufgelesene Pferdeäpfel nach ihm werfen, zum Glück ohne ihn zu treffen. Autogrammjägerinnen Nach der angenehmen, abwechslungsreichen Seefahrt strebt Brahms seinem Domizil im Hause Spring zu. Warum eine Kutsche nehmen, wenn ein Abendbummel Seele und Körper erfrischt. Kaum aus dem Schiff ausgestiegen, wird er von zwei jüngeren Fräulein quasi überfallen, möchten sie doch vom berühmten Dr. Brahms ein Autogramm erhalten. Brahms, etwas in seinen Bart brummelnd, gibt ihnen gutmütig das Autogramm, ohne sich aber auf ein Gespräch einzulassen. Verwehrte Ehrung Gegen Abend betritt Brahms das Haus mit seiner Wohnung und dabei händigt ihm Kaufmann Spring eilfertig und devot einen Brief aus, der für Brahms abgegeben wurde. Es handelt sich um einen Brief des Thuner Männerchors, in dem Brahms zu einem Abendessen mit dem Vorstand eingeladen wird. Diese Einladung hat allerdings eine Vorgeschichte, die Brahms später zu Ohren kommt. Einige Mitglieder des Männerchors wollten dem berühmten Komponisten die Ehrenmitgliedschaft verleihen. Doch eine Mehrheit des Chors war dagegen, weil die politische Gesinnung von Brahms nicht opportun war. Denn er ist durchaus ein Anhänger sowohl der deutschen Monarchie als auch der franzisko-josephinischen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Keine Ehrenmitgliedschaft, dafür ein Abendessen… Brahms amüsiert sich köstlich darüber. Die Thuner, etwas trocken und spröde Ein abwechslungsreicher Tag geht zu Ende im schönen Thun, wo es Brahms sehr behagt, Sommerwochen zu verbringen. Aber in Thun ist Brahms, das merkt er bald einmal, der ausländische Aussenseiter, der keineswegs in die Thuner Bevölkerungsgemeinschaft aufgenommen wird. Bisweilen, das darf gesagt werden, hat er doch ein bisschen Sehnsucht nach dem gewissen Charme von österreichischen Kellnern und Eisenbahn-Kondukteuren…