Nachwuchs im Schlosspark Hünegg
Nachwuchs im Schlosspark Hünegg
Desertrose, eines der beiden Bennet-Wallabys aus dem Schlosspark Hünegg, hat nun einige Zeit lang Nachwuchs in ihrem Beutel herumgetragen. Inzwischen konnte das Jungtier die behütete Kinderstube verlassen und entdeckt die Welt auf seinen eigenen Füssen. Wir machen einen kleinen Rückblick und begleiten die abenteuerliche Reise von Little Lord.
Text: Toby Adam | Fotos: Christine Hunkeler
Endlich! Endlich öffnet meine Mama ihren Beutel und lässt mich das Licht der Welt erblicken! Die letzten fünf Monate verbrachte ich gut behütet im warmen, weichen Beutel. Da ich in dieser Zeit noch zu klein und selbst nicht genügend geschützt vor der Kälte war, musste ich weiterhin wachsen und mich mit der Muttermilch stärken, um dann erstmals das Köpfchen aus dem Beutel strecken zu dürfen. Nur kurz, denn es war trotz den Anzeichen des Frühlings immer noch zu kalt für mich. Nun kann ich aber immer öfters hinausgucken und die Welt vom sicheren Mutterleib aus entdecken. Die Umgebung erkunden darf ich in der nächsten Zeit noch zusammen mit meiner lieben, sanften, fürsorglichen Mutter – einer wahren Schönheit! Wo sie hinspringt, die Sonnenstrahlen geniesst und all die Menschen neugierig beobachtet, dort bin auch ich immer anzutreffen. Ob an Ort und Stelle, mit gemächlichem Tempo oder schnell wie ein Pfeil, ich werde stets mitgetragen.
Hier darf die junge Kander noch mäandrieren, wie es ihr beliebt, und schlägt darum gelegentlich überraschende Läufe ein. Im Gasteretal kann man einen Fluss erleben, wie er früher war – bevor die grossen Gewässerkorrekturprojekte des 19. und 20. Jahrhunderts die Schweizer Flüsse und Ströme kanalisierten, zähmten und zivilisierten. Als Kind versuchte Adolf Ogi zusammen mit seinem Vater, die Ufer der Kander im Gasteretal aufzuforsten und so den Flusslauf zu stabilisieren. Wenn aber die Kander im Gasteretal stark anschwillt, ist sie kräftig genug, um auch grosse Bäume mitzureissen. Selbst die Hängebrücke bei Selden ist nicht sicher vor dieser Urgewalt und wurde schon mehrmals beschädigt. Eine Wanderung durch das Bachbett der Kander im Gasteretal ist immer auch eine Art Zeitreise, denn «dank der kanalisierten Flussläufe durch stabile, schnurgerade Flussbette sind wir uns heute gar nicht mehr an die zerstörerische Gewalt des Wassers gewöhnt. Ich erinnere mich gut, wie das früher war und welchen Segen die Bach- und Flusskorrekturen für Mensch und Tier darstellten», meint Ogi.
Die Geschichte des Gasteretals ist aber auch eine Geschichte der Menschen, die seit vielen Jahrhunderten in und mit diesem Tal leben. Noch vor nicht allzu langer Zeit war das wilde Tal sogar ganzjährig bewohnt – so lebte etwa Adolf Ogis Grossmutter Margrit Ogi-Künzi in ihrer Jugend ganzjährig in Selden. Dies ist heutzutage nicht mehr möglich; zu gefährlich sind die Winter im von hohen, steilen Felswänden umringten Trogtal. Aus diesem Grund wird im Oktober auch die einzige Zufahrtsstrasse geschlossen. Im Sommer aber kehrt wieder Leben ein, denn im Gasteretal existieren noch Spuren der uralten halbnomadischen Lebensweise, die den Völkern des Alpenraums einst eigen war. So gibt es hier noch die altehrwürdige Institution des Dorfältesten, in dessen Obhut sich die berühmte, über 300 Jahre alte Gasterebibel und die etwas jüngere Gasterechronik befindet. Der jetzige Dorfälteste Christian Künzi führt nebenher auch das Gasthaus Steinbock, in dem man am knisternden Kaminfeuer den Geist dieses Tales auf sich wirken lassen kann.
Kann man einen Besuch in diesem Naturschutzgebiet aber überhaupt verantworten? Darf man hingehen und etwa mit den eigenen Füssen durch das Bachbett der jungen Kander spazieren? Selbstverständlich, sagt Adolf Ogi, dem das Schlusswort überlassen sei: «Im Grunde unseres Herzens sind wir doch alle noch ein wenig Kantianer und durchaus fähig und willens, Verantwortung für etwas zu übernehmen. Indem ich meine Lieblingsplätze bekannt mache, werden sie in ihrer ganzen Bedeutung als wertvolle Orte in einer intakten Landschaft wahrgenommen und etwas Wertvolles zu schützen, sind die Menschen gerne bereit. Ich bin schon zu lange Politiker, als dass ich den Kräften der Demokratie nicht vertraute. Auch das Tragen von Verantwortung haben wir in den letzten fast hundert Jahren demokratisiert. Wir sind als Gesellschaft durchaus in der Lage, auch mit sensiblen Landschaften umzugehen und zu diesen ganz speziell Sorge zu tragen, das liegt mir sehr am Herzen.»
«Nun kann ich aber immer öfters hinausgucken und die Welt vom sicheren Mutterleib aus entdecken.»
Mama hat mir mittlerweile verraten, dass sie meinen Vater im Seeland kennengelernt hat, als sie eine eigenständige, ausgewachsene, aber noch sehr junge Dame war. Wir Kängurus haben die erstaunliche Gabe, selbst zu entscheiden, wann wir eine Geburt auslösen möchten und sogar welches Geschlecht unser Baby haben soll.
So kam es, dass Mama im Spätsommer 2021 in ihrem neuen Zuhause am Thunersee zuerst ankommen und sich einleben wollte. Als sie überzeugt war, dass sie an einem schönen und sicheren Ort angelangt ist, wo es ihr an nichts fehlt – so erzählte es mir meine Mutter –, entschied sie sich dafür, die Schwangerschaft auszulösen. Was dann geschah, ist ein Wunder, sie hat es mir ganz genau erklärt: Aus der befruchteten Eizelle entstand nun während 30 Tagen ein Embryo, ausschliesslich mit Köpfchen und Vorderpfoten, nur ein halbes Gramm leicht und eineinhalb Zentimeter klein. Das war ich! Als sich meine Mami, die sich so gut um mich kümmert, nach dem ersten Monat auf den Boden setzte, konnte ich selbstständig den Mutterleib verlassen. Mit meinen starken Ärmchen, die ich in den Wochen zuvor fleissig benutzt habe, damit sie für diesen Moment genug kräftig wurden, klettere ich ganz alleine über ihren Schwanz den Bauch hoch, um in den grossen Beutel zu steigen. Dieser hat sich rechtzeitig geöffnet und sofort wieder für fünf Monate geschlossen. Als ich im sicheren Dunkel angelangt war, habe ich damit begonnen, mich mit Muttermilch zu stärken.
Nun, ein halbes Jahr später, zieht es mich hinaus! Jedoch muss noch mehr Zeit vergehen, bis ich endlich und zum ersten Mal festen Boden unter den Füsschen haben darf … Beim ersten Blick hinaus in die Welt war mein Köpfchen rosafarben und ungeschützt, doch bereits wenige Wochen später hat es sich schwarz gefärbt. Jetzt wachsen überall Härchen, und mein Pelzchen entsteht.
Schon bald steht auch für die Aussenwelt fest, ich bin ein kleiner Schlingel! Immer öfter versuchte ich, aus dem Beutel zu steigen – vergeblich. Endlich gelingt es mir, zuerst das eine, dann auch das zweite Ärmchen hinauszuzwängen. Nach einigen Wochen lässt mich meine Mutter hinaus! Ein neues Abenteuer, das mich so stark fordert, dass ich für die nächsten Tage ganz brav, zurückhaltend und ohne zu drängen im sicheren Beutel bleibe. Mein erstes Ausbüchsen hat dazu geführt, dass mein menschlicher Vater bereits feststellen konnte, dass ich ein Bübchen bin. Nun darf ich schon einen Namen tragen: Little Lord.
«Mama hat mir mittlerweile verraten, dass sie meinen Vater im Seeland kennengelernt hat, als sie eine eigenständige, ausgewachsene, aber noch sehr junge Dame war..»
Was für ein Moment, was für ein Tag! Im Alter von acht Monaten steht für mich eines Morgens fest: Ich will die Zeit endlich draussen und nur noch selten im Beutel verbringen. Es zieht mich hinaus … Ein Glück, bin ich gesund, ein Glück, schaut meine Mutter so gut zu mir. Leider haben viele meiner Brüderchen und Schwesterchen grosses Pech; beinahe die Hälfte aller Jungtiere stirbt in den ersten Monaten. Sie werden ausgestossen, erkranken, fallen aus dem Beutel und schaffen es nicht mehr hinein. Dankbar, dass ich leben darf, habe ich nun genug Kraft, um auch längere Zeit selbstständig herumzuspringen und die Welt ganz alleine zu entdecken.
Die Zeit fliegt … sie springt und hüpft vielmehr! Schon geht es dem Ende des neunten Monates zu. Nun lässt mich meine Mutter plötzlich und auch häufig allein. Zudem darf ich nicht mehr in den flauschigen Beutel steigen. Milch trinken, das ist das Einzige, was sie noch zulässt. Jetzt muss ich mich nicht nur meist allein zurechtfinden, sondern zugleich damit beginnen, feste Nahrung zu suchen.
Das Älterwerden ist nicht einfach … Wie schön war es doch in der behüteten Kinderstube. Im zehnten Monat, da bin ich nun angelangt. Auch wenn das Band zwischen mir und meiner Mutter bestehen bleibt, so löst sich doch die körperliche Verbindung zu ihr nun immer mehr auf …
«Die Zeit fliegt … sie springt und hüpft vielmehr!»