Mystische Bergwelt in «Seilnacht Blau»

Mystische Bergwelt in «Seilnacht Blau»

Mystische Bergwelt in «Seilnacht Blau»

Seit über 20 Jahren experimentiert der ausgebildete Pädagoge und Chemiker Thomas Seilnacht mit der Herstellung von Malfarben – entstanden ist dabei nicht nur sein eigenes «Seilnacht Blau» mit brillanter Leuchtkraft, sondern auch eine Vielzahl an eindrücklichen und farbintensiven Kunstwerken.

Text: Esther Loosli | Bilder: Thomas Seilnacht

Als Lehrer an der Realschule Mühlheim an der Donau in Baden-Württemberg tätig, kam Thomas Seilnacht vor gut zwei Jahrzehnten auf die Idee, mit seinen Schüler:innen in den Fächern Chemie und Bildnerisches Gestalten selbst Malfarben zu produzieren und diese dann kreativ einzusetzen. Daraus entwickelte sich schrittweise das umfangreiche Farbenprojekt, das nicht nur in Deutschland, sondern auch im Zentrum Paul Klee in Bern, im Museum Franz Gertsch in Burgdorf oder im Lernlabor der Pädagogischen Hochschule Luzern viele zu begeistern wusste. Egal ob Höhlenmalereien aus selbst gemachter Kreide, Caseinbilder mit den kräftigen Farben Afrikas oder Kompositionen in verschiedenen Blautönen, die Kinder und Jugendlichen liessen ihrer Fantasie freien Lauf und schufen ausdrucksstarke Bilder. Und offenbar so gute, dass das Werk eines Neuntklässlers an der deutsch-schweizerischen Grenze tatsächlich für ein Bild des bekannten Expressionisten Wassily Kandinsky gehalten wurde. Doch nicht nur die Schulklassen entwickelten eine grosse Begeisterung für die selbst hergestellten Malfarben und deren kreative Verwendung, auch Thomas Seilnacht fand darin seine Berufung.


Auf eigenen Wegen

Als der heute 59-Jährige 2005/06 das Farbenprojekt im Kindermuseum Creaviva, Zentrum Paul Klee, durchführte, erregte er die Aufmerksamkeit der Berner Galeristin Christine Brügger. Begeistert von seinen stimmungsvollen Bildern, ermutigte sie ihn, die Kunstmalerei hauptberuflich auszuüben. «Sie hat mir den Weg in die Selbstständigkeit aufgezeigt und ihn mit mehreren Einzelausstellungen auch geebnet», meint der deutsch-schweizerische Doppelbürger rückblickend. Zutiefst geprägt hat ihn auch die Begegnung mit dem Kunstmaler und Bildhauer Fred Baumann in Dürrenroth. Förderer, Freund und Vorbild zugleich, schärfte dieser ihm vor allem das Auge und lehrte ihn das genaue Hinsehen. Zudem erhielt er den entscheidenden Impuls, zügiger zu arbeiten. «Früher brauchte ich relativ lange, um ein Bild zu malen, die schnelleren Pinselstriche haben die Qualität meiner Werke sehr verbessert», hält Thomas Seilnacht fest. Als weitere grosse Inspiration nennt er die Begegnungen mit dem Maler Bendicht Friedli, dessen Farbkombinationen dem gebürtigen Basler imponiert haben.

Anfangs stark von Baumanns und Friedlis Schaffen beeinflusst, entwickelte Thomas Seilnacht mit der Zeit einen eigenen Stil. Diese Herauskristallisierung seiner künstlerischen Identität zeigt sich eindrücklich in seinen Bildbänden, in denen friedlieske Niesenbilder oder baumannsche Provenceszenen abgelöst werden von der unverkennbaren Bildsprache Seilnachts: Seine Spezialität sind imposante, mystische Berg- und Seenlandschaften, gemalt mit lichtbeständigen Caseinfarben von grosser Farbstärke und Brillanz. Eine zentrale Bedeutung kommt dabei der Farbe Blau – besonders dem Ultramarinblau – zu, die aus seinen Werken kaum wegzudenken ist und ihnen eine expressive Tiefe verleiht. «Blau ist eine faszinierende Farbe. Seine teils ambivalente Symbolik, die Assoziation mit dem Geistigen und die verschiedenen Blautöne ergeben ein Spannungsverhältnis, mit dem sich wunderbar spielen lässt.»

Das Geheimnis von «Seilnacht Blau»

Die blauen ebenso wie alle anderen Malfarben, die Thomas Seilnacht verwendet, stellt er ausschliesslich selbst her. Und zwar mit einer Technik, die ähnlich schon im alten Rom angewandt wurde: Dabei wird das Eiweiss Casein, das man aus Milch gewinnen kann, mit gelöschtem Kalk und Wasser verrührt. Das daraus entstehende Bindemittel kann mit Pigmenten wie Chromoxidgrün, Cobaltcoelinblau oder Manganviolett angereichert werden. Der Künstler mischt die einzelnen Farbmittel in der Regel nicht, weil sie in ihrer reinen Form am intensivsten wirken. Ausserdem benutzt er nur anorganische Pigmente, also solche, die frei von Kohlenstoffverbindungen sind – unter anderem deshalb, weil so die Malfarbe sehr lichtbeständig ist: «Meine Bilder sollen nicht nur 50, 100 oder 200 Jahre überdauern, sondern für die Ewigkeit sein.» Malfarben kauft er seit dem Farbenprojekt an der Realschule Mühlheim an der Donau keine mehr: «Mit selbst hergestellten Caseinfarben zu malen, ist, wie auf einem Steinway-Flügel zu spielen – dagegen ähneln handelsübliche Malfarben einem E-Piano.»

Nach zwei Jahrzehnten des Experimentierens konnte Thomas Seilnacht vor circa fünf Jahren ein grosses Problem lösen, das beim Einsatz von besonders farbstarken Pigmenten wie Ultramarinblau auftritt: Wird es mit Öl zu einer Ölfarbe vermischt, verdunkelt sich die Farbe stark und verliert so seine Leuchtkraft. Dieser unerwünschte Effekt tritt bei einem Bindemittel auf Caseinbasis nicht ein, jedoch entsteht ein geringer Abrieb. Bei seinen Experimenten mit der Farbherstellung entdeckte er, dass die Beigabe von einer winzigen Menge Acrylemulsion zum Caseinbindemittel die Haftfähigkeit verbessert, ohne dass die Farbe verdunkelt. Daraus entstanden ist «Seilnacht Blau» – eine Ultramarinblaufarbe von hoher Beständigkeit und unglaublicher Intensität, die man in einem Druckmedium wie der ThunerseeLiebi nicht abbilden, sondern nur live erleben kann. Denn erst so lässt sich erkennen, wie die raue, auskristallisierte Oberfläche der Caseinfarbe das Licht in alle Richtungen streut und die Farben dadurch zum Strahlen bringt.


Natur in reiner Form

Die Caseinfarben, kombiniert mit seiner Technik, relativ trocken und mit dunklen auf hellen Farben zu malen, verleihen seinen Werken Tiefe. Auch die Horizontlinie, die in fast jedem seiner Bilder zu sehen ist, unterstützt diese Wirkung. Und das ist wichtig, denn für Thomas Seilnacht bedeutet Kunst, ein Objekt nicht in 2-D oder 3-D, sondern in 4-D abzubilden. «Ich will das innere Bild, das Unbewusste, wiedergeben. Es geht auch darum, die Veränderung des 3-D-Objekts und der Lichtverhältnisse über den Tages- beziehungsweise den Jahresverlauf zu beobachten – das Licht, verbunden mit dem Faktor Zeit, schafft Freiraum für Abstraktion.» So kommt es denn auch oft vor, dass der 59-Jährige noch vor Sonnenaufgang auf den Spuren der Malerinnen Clara Porges und Beatrice Guyer durch das Engadin wandert oder den ganzen Tag bei der Kirche Merligen mit Blick auf den Niesen sitzt, um sein Motiv zu studieren. Der Thuner Hausberg übt eine besondere Anziehungskraft auf Thomas Seilnacht aus, aber auch der Silsersee, der Vierwaldstättersee mit Pilatus oder die Walliser Alpen faszinieren ihn. Neben der Schweizer Bergwelt bieten auch Island und die Niederlande viel Inspiration. Seine Abbildungen sind stets identifizierbar, entsprechen jedoch nicht vollständig der Realität, sondern geben sein inneres Bild wieder. «Mir geht es um die pure, unberührte Form, um die Natur als mystischen Klang- und Sehnsuchtsraum. Der Gipfel interessiert mich nicht, ich will den Berg nicht erklimmen oder beherrschen, sondern ihn in seiner erhabenen Ganzheit mit all seinen Strukturen, Rhythmen und Klängen darstellen.» So werden seine Werke zur seelischen Projektionsfläche und bieten den Betrachtenden ein emotionales Erlebnis.

Wer auf der Suche nach ebendiesen Eindrücken ist, kann die Kunstwerke von Thomas Seilnacht hoffentlich schon bald wieder aus nächster Nähe bewundern. So hofft er nach der coronabedingten Absage vieler Ausstellungen, seine Bilder wieder einem grösseren Publikum zugänglich machen zu können. Und vielleicht lässt sich dann nicht nur «Seilnacht Blau» in seiner vollen Pracht bestaunen, sondern auch noch weitere Entdeckungen. Denn Thomas Seilnacht experimentiert auch nach über 20 Jahren noch voller Leidenschaft in seinem Atelier in Gwatt mit den Komponenten seiner Caseinfarben und inszeniert so seine Motive in immer neuem, aber stets meisterhaftem Licht.

Kontakt
Thomas Seilnacht
Strättlighügel 27
3645 Gwatt
Telefon: 031 372 21 34
E-Mail: seilnacht@gmx.ch

www.thomasseilnacht.ch
www.seilnacht.com


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