Nicht unweit von mir entdecke ich eine wichtige Helferpflanze des Frühlings und der Osterzeit; sie liebt die hellen, lichtoffenen, von der Winterfeuchte durchtränkten und von der Frühjahrssonne erwärmten Auen: die Echte Schlüsselblume (Primula veris oder Primula officinalis), auch Primel genannt. «Primus» bedeutet Erste und «veris» Frühling: Die Erste des Frühlings. Zwar blühen auch schon Gänseblümchen, Narzissen, Krokusse und andere Frühblüher; die Schlüsselblume ist aber eine, wenn nicht die zentrale Heilpflanze des Frühjahrs.
Ihr Wesen besitzt eine sanftmütige, feine, luftig-leichte, ja beinahe eine ansteckende Fröhlichkeit. Sie bezaubert und berührt mit ihrem Blick unsere Herzen. Im stillen Dialog mit der «Himmelsöffnerin», wie die Schlüsselblume auch genannt wird, erfahre ich Folgendes: «Ich, die Schlüsseljungfrau, beflügle mit meinem Duft die ganze Welt bis hin zur Ebene der Götter. Mein Frühlingsreigen ist das Abbild der Wiedervereinigung von Himmel und Erde, des fliessenden Ineinanderwebens der Elemente. Es ist die Begegnung zwischen der Kraft des Ursprungs und der Energie des Neuen. Ich kann dein magischer Schlüssel sein, um am Faden deines Lebens viele Tore zu öffnen, die sonst geschlossen blieben. Ich helfe dir, deine inneren Wünsche mit den schöpferischen Impulsen im Aussen zu verbinden. Ich begleite dich und stärke dich an Schlüsselstellen, wo du an deine Grenzen stösst. Ich helfe dir bei deinem gründlichen Frühjahrsputz, im Innen wie im Aussen.
Es ist Zeit, in die Leichtigkeit zu kommen, dich von der Vergangenheit zu lösen und sie hinter dir zu lassen. Schritt für Schritt lehre ich dich, Reife zu erlangen, damit du erkennen kannst, wann es Zeit ist, etwas loszulassen, und wann nicht. Tanz dich raus aus dem, was dich gefangen hält! Weg mit begrenzenden Mustern, die keine Daseinsberechtigung mehr haben! Ich helfe dir, dein gegenwärtiges Selbstbild anzusehen und den Schlüssel zur Selbstheilung zu finden, damit du dein neues Lebensjahr beginnen kannst.»
Die Schlüsselblume im Märchen
Wie kaum eine andere Pflanze wird die Schlüsselblume mit Reichtum, Glück und Wohlstand in Verbindung gebracht. Es gibt viele Versionen von Märchen, in denen erzählt wird, wie mit der wunder-
samen Kraft der Schlüsselblume verborgene Schätze entdeckt und geschlossene Tore zu Schatzkammern geöffnet werden konnten. Die Glücklichen füllten dort ihre Taschen mit Edelsteinen und Gold. Wer jedoch beim Verlassen der Kammer den wichtigsten Schatz vergass, die Schlüsselblume, erlangte grosses Unglück: Ihnen schloss sich das Tor für immer; sie hatten keinen Zutritt mehr zur Schatzkammer und wurden bis ans Ende ihres Lebens von einem schwarzen Hund verfolgt.
Das Tor zur Schatzkammer symbolisiert das Herz. Der Schlüssel ist das Licht der Seele, mit dem sich Tür und Tor zu Körper, Geist und Selbst öffnet. Die Schatzkammer ist der innere Reichtum oder die eigene Kraft. Der schwarze Hund symbolisiert die Angst, die Gier und die Rastlosigkeit. Übersetzt könnte man also sagen: Durchschreite dein Herzenstor, entdecke deine innere Schönheit, deine Feinfühligkeit, all deine Talente und Aufgaben, die erkannt und ans Licht gebracht werden wollen. Achte darauf, was dein Herz berührt und dir Kraft spendet, um diesen Zustand immer wieder erwecken zu können. Bleibe in deiner Weichheit, deiner Feinheit, auch wenn du mit rauen Dingen in Berührung kommst. Lass dich nicht von der Gier und den materiellen Dingen blenden, sondern erfreue dich daran, den Schlüssel für deine eigene Zufriedenheit gefunden zu haben!
Zwischen Himmel und Erde
Die leuchtenden, stark duftenden, gelben Blüten der Schlüsselblume sind horizontal in einer Doldenstellung angeordnet und der Sonne zugewandt. So symbolisiert die Schlüsselblume die optimale Spannung zwischen der Erdenschwere und der lichtvollen Leichtigkeit des Himmels: Die fröhliche Leichtigkeit ist von einer gewissen Schwere umgeben, sodass man die zuweilen hängenden Blüten am liebsten stützen möchte. Diese Signaturen sind sehr typisch für Pflanzen des Herzens. Und tatsächlich: Traditionell wird die Schlüsselblume in Kombination mit anderen Herzpflanzen wie Weissdorn oder Galgant als herzstärkendes Mittel eingesetzt; sie dient der Kräftigung bei Herzschwäche und der Linderung von Altershusten, wenn sich aufgrund einer verminderten Herzleistung Flüssigkeit in der Lunge staut. Bei nervösen Herzbeschwerden, Neigung zu Schlaganfall, Liebeskummer, Gefühlsarmut oder Ängsten wird die Schlüsselblume ebenfalls eingesetzt. Und sie ist eine der wichtigsten Einschleuserpflanzen im Frühling. Sie sollte deshalb als allererstes Heilkraut des Jahres genommen werden, dann schliesst sie die Inhaltsstoffe der anderen Heilpflanzen für uns auf.
Die Blütendolde erinnert an einen Bartschlüssel. Dieser Schlüssel öffnet die Tore unserer Herzen und unserer Psyche, damit die Strahlen der Frühlingssonne sie erwärmen. Schlüsselblumenzubereitungen sind deshalb ausgezeichnete Nerventonika: Sie fördern den Schlaf, beruhigen angespannte Nerven und lindern nervöse Zuckungen. Als sonnenhaftes Wesen stärkt die Schlüsselblume zudem die innere Geborgenheit und das Urvertrauen. Sie hilft uns, geduldig zu sein, abwarten zu können und das Gefühl des Gehetztseins abzulegen. Sie unterstützt uns bei der Aufarbeitung von Themen wie Selbstzweifeln, Minderwertigkeitsgefühlen und Erwartungsängsten. Zudem vertreibt die Heilpflanze Schwermütigkeit, zum Beispiel die Frühlingsmüdigkeit oder depressive Verstimmungen.
Für die Frühjahrskur und Erotik: Blüten mit einem tiefen Schlund signalisieren allgemein eine Fruchtbarkeitswirkung. Die Durchlässigkeit der Eileiter (Eileiterverklebung) wird erhöht und der Uterus angeregt. In der Trichterform der Blütenkelche und der Blüten gibt die Schlüsselblume zudem zu erkennen, dass sie fähig ist, «Luft in sich aufzunehmen», und einen starken Bezug zum Element Luft besitzt. Auf die Lunge verweisen auch die breiten, samtig behaarten Blätter mit den markanten Blattadern und die darin enthaltenen Schleimstoffe. Die Schlüsselblume ist deshalb in Hustenzubereitungen zu finden: Sie lindert Hals- und Kehlkopfentzündungen, Erkältungen und Bronchitis. Insbesondere die kräftigen Primelwurzeln wirken stark schleimlösend und verflüssigen zähen Schleim in den Nebenhöhlen und der Stirn. In fast allen Pflanzenteilen sind Schleimstoffe enthalten. In Kombination mit einem feuchten Standort und dem milchigen Hauptnerv der Blätter verweisen diese auf den Mond. Der Mond mit seinen weichen, wässerigen und auch schleimigen Aspekten steht in Verbindung mit dem Wasser. Deshalb wirkt er auf das Unterbewusstsein; er wirkt beruhigend, entzündungs-
hemmend und krampflösend. Die Schlüsselblume kann infolgedessen auch Zahnfleisch- und Mundschleimhauterkrankungen lindern. Ausserdem wirkt sie harn- und schweisstreibend, blutreinigend und ausleitend, was sie zu einer ausgezeichneten Begleiterin bei Frühjahrskuren macht.
Gut zu wissen: Man kann die Schlüsselblume im eigenen Garten ansiedeln, wenn man auf Dünger verzichtet (Aussaat von Mai bis Juli). Aufgrund der Überdüngung der landwirtschaftlich genutzten Flächen ist die Echte Schlüsselblume selten geworden. Sie steht deshalb unter Naturschutz und darf nicht gesammelt werden!
Für die Wildsammlung kann man die häufiger vorkommende Hohe Schlüsselblume (Primula elatior) nutzen. Oder aber man kauft sich Tee oder Präparate der Echten Schlüsselblume in der Drogerie oder Apotheke. Es werden Blüten, Blätter und Wurzeln verwendet. Inhaltsstoffe sind u. a. Saponine, Phenolglykoside, ätherisches Öl, Flavone, Kieselsäure, Gerbstoffe, Vitamin C und Magnesium.