Der neue Umgang mit der Natur

Der neue Umgang mit der Natur

Der neue Umgang mit der Natur

Eine kleine Gruppe Naturbegeisterter macht sich auf, um im Jagdbanngebiet Kiental behutsam, auf Schneeschuhen, dem scheuen Bergwild nachzuspüren. Gemeinsam entdecken sie, jeder aus einer anderen Perspektive, die Eigenheiten und Notwendigkeiten der stillen Geheimnisse des Bergwaldes – vor unserer Haustür. Es wird eine Entdeckungsreise in die Geschichte und Zukunft unseres Umgangs mit der Natur.

Text: Martin Natterer  |  Fotos: Kurt Gansner, Nina Gansner, Peter Juesy, Martin Natterer

Es ist ein Tag, zu dem jeder der Beteiligten etwas beisteuern wird. Der heimatverbundene ehemalige Jagdinspektor Peter, die exzellent ausgebildete Wanderleiterin Jolanda, die vielsprachige, herzenswarme Pensionärin und passionierte Skifahrerin Christine, der zutiefst naturverbundene, sich täglich in den Bergen aufhaltende Elektroinspekteur Erwin und der ­passionierte Wanderfreund und ehemalige Kommunikationswissenschaftler Martin.

Wir sind mit Schneeschuhen unterwegs, um die Welten der Wildtiere und des Winters zu beobachten. Und um uns und unseren Umgang mit der Natur neu kennenzulernen. Und wir glauben, wir könnten gemeinsam einen neuen Umgang mit ihr erlernen. Und wir beginnen am Tschingelsee.

Ort mit Charakter

Das obere Kiental spiegelt in der Tier- und Pflanzenwelt viele Klima- und Wachs­tumszonen der Alpenwelt. Schnell steigt das Gelände hinter dem Hauptort Kiental an und verengt sich am verlandenden Tschingelsee, um dann über die steilste Postautostrecke der Schweiz zur über 1400 Meter über dem Meer hoch gelegenen Griesalp zu führen. Dahinter verzweigt sich das Tal, rechts geht es zum Hohtürli, geradeaus zum Gamchigletscher, links hi­nauf zur Sefinenfurke, von wo aus man an guten Tagen auch auf das fast 3000 Meter über dem Meer hohe Schilthorn gelangen kann. 

Es ist eine uralte Verkehrsstrasse, die bis vor rund 100 Jahren das liechtensteinische Vaduz mit Montreux am Lac Leman verband. Zu Fuss, und anders war die beschwerliche Reise nicht möglich, benötigte man rund 14 Tage für den alten «Alpen-Schnellweg». Und, man mag es kaum glauben, das «Golderli», das wir kurz hinter der Griesalp passieren, war eine der Übernachtungsstationen an diesem Weg. Kaum weniger berühmt war das Hotel Bären, ­unten im Kiental, in dem vom 24. bis zum 30. April 1916 der «Genosse Lenin» an einer Sozialistenkonferenz teilgenommen hatte.

Was wir also im ausgehenden Winter 2021 mit Schneeschuhen gehen, das war über Jahrhunderte der «ganz normale» Fussweg vom Rhein nach Montreux. Als «Via Alpina» wurde die Route wiederbelebt. Sie überquert 14 der schönsten Alpenpässe, führt durch sieben Kantone der Schweiz und zeigt deren vielfältige Kultur, Geologie und Topografie. 

Im oberen Kiental ist es ein stiller Weg, führt er doch gerade hier durch eines der ältesten Jagdbanngebiete der Schweiz. Es feierte am 1. September 1991 sein 100-Jahr-­Jubiläum, und im Jahr 2021 wurde es – fast unbemerkt – 130 Jahre alt. 

Ort mit Geschichte

Bevor uns die Natur vollkommen in ihren Bann schlagen kann, tut es die Geschichte. Über 1000 Jahre schon reicht die histo­rische Erinnerung im Kiental zurück, teils nur im Stillen, teils spektakulär. Die Herren von Kien hatten seit dem 12. Jahrhundert auf dem Gebiet des heutigen Kantons Bern eine wichtige Rolle gespielt. Doch sie waren Spielball der damaligen Machtpolitik geworden und hatten versucht, allen Herren zu dienen: den Sittener Bischöfen, den Herzögen von Savoyen und der Stadt Bern, in deren Rat sie oft bedeutende Funktionen einnahmen. Ihnen gehörte auch das hochmittelalterliche Jagd­recht im Kiental. Bis genau zum Jahr 1400, als sie sich derart verschuldet hatten, dass sie alle ihre Besitztümer an den aufstrebenden Stadtstaat Bern verpfänden und dann auch abtreten mussten. 

Seither gilt im Kiental Berner Jagd- und Waldrecht. Was aber nicht verhinderte, dass das Kiental Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts stark abgeholzt und fast ohne Wild war. Der Kientaler Alt-Wildhüter Fähndrich schreibt in seinem Tagebuch im Jahre 1905: «Ich hüte die letzten Gämsen auf der Alp Hohkien im hinteren Spiggengrund.»

Und was man leichthin Wilderei nannte, war zum Teil einfach existenznotwendige Nahrungsbeschaffung einer «mausearmen» Bergbevölkerung, die auch unter den letzten Jahrzehnten der über 300 Jahre dauernden Kleinen Eiszeit gelitten hatte.

Als 1875 das erste eidgenössische Jagdgesetz erlassen wurde, gab es in der ganzen Schweiz praktisch keine Gämsen mehr. 

Als 1875 das erste eidgenössische Jagdgesetz erlassen wurde, gab es in der ganzen Schweiz praktisch keine Gämsen mehr. Auch Rotwild, Rehwild und sogar Steinböcke waren praktisch ausgestorben. Von Bär, Luchs und Wolf schon ganz zu schweigen. 1891 wurde dann das eidgenössische Jagdbanngebiet in einem weiten Perimeter um das Kiental herum eingerichtet, und das oberste Ziel war es, den verschiedenen Tierarten in der Schweiz überhaupt noch eine Überlebenschance zu geben. Das Kiental wurde zu einer Wiege des Tierschutzes in der Schweiz. 

Einige Kientaler sind noch am Leben, die erzählen können, wie sie noch in den 1960er-Jahren in Tragkörben und mit einem kleinen VW-Käfer Wildtiere vom Kiental aus in verschiedene Kantone der Schweiz verfrachtet haben. Als uns Peter, der Fachmann, von diesen Umständen berichtet, sitzen wir bereits an den Abhängen des Abendbergs und geniessen die erste Pause dieses Tages. Jolanda hatte uns zuvor umsichtig und sicher von der Griesalp hier hi­naufgeführt.

Ein neues Geben und Nehmen

Mittlerweile sind der Mensch und die Natur in eine neue Phase eingetreten. Nach der Rettung der Arten (ersten Phase) und der Bewahrung der natürlichen Wildumgebung (zweiten Phase) könnte es – da sind wir uns auf der Wanderung einig – in den kommenden Jahren in einer dritten Phase darum gehen, dass sich Menschen und Tiere in neuer Weise begegnen. Und besonders die stark verstädterten Menschen müssen dies alles neu lernen, müssen neu lernen, was sie geben müssen, damit sie noch lange nehmen können. Beides sollte sich die Waage halten.

Beispiele aus der Tierwelt

Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen: Gämsen haben Wintereinstände, zwischen denen sie sich auch im Winter auf sogenannten Wildwechseln bewegen. Ganz in der Nähe der Einstände befinden sich oft Äsplätze, an denen sie ihre karge Nahrung suchen: Sie kratzen den Schnee frei, oder sie nutzen bereits von der Sonne beschienene Flecken, an denen das raue Wintergras hervortritt. Es ist eine einfache Strategie: Fortbewegung reduzieren, möglichst thermisch günstige (warme) Orte aufsuchen, Nahrungsaufnahme konzentrieren. 

Plötzlich heranrasende Menschen (gemeinhin als «Skifahrer» bezeichnet) sind für die Tiere absolut nicht berechenbar, und sie schaffen es auch mit keiner Anstrengung der Welt, ihnen schnell genug auszuweichen. Dieses «Gefahrenbild» gilt auch für die übrigen Bewohner des winterlichen Waldes, Bewohner wie Hirsche, Birk- oder Haselhühner, ja sogar für die an sich flinken Hasen. 

Als langsame Schneeschuhwanderer haben wir da ein gutes Gewissen. Aber auch wir bewegen uns ja – an der Flanke des Abendberges – ganz nahe an den Wildeinständen. Und für einen Moment werden wir ganz ruhig und still, und wir sind uns unserer eigenen Präsenz im Wald bewusst. Und auch des Umstandes, dass uns «genau jetzt» das eine oder andere Tier ein wenig angstvoll beäugen mag. Und es einfach abwartet – und hofft, wenn Gämsen denn überhaupt hoffen können.

Plötzlich heranrasende Menschen (gemeinhin als «Skifahrer» bezeichnet) sind für die Tiere absolut nicht berechenbar.

Und da gibt es noch besonders Sensible: Schneehühner graben sich zum Beispiel im Winter sehr oft im Schnee ein. Denn in ihrer selbst gebauten Schneehöhle ist es deutlich wärmer als an der meist extrem eisigen Oberfläche der weissen Pracht. Fahren dann aber Tourenskifahrer «wild» durch das Gelände, können die Schneehühner die dadurch ausgelösten Erschütterungen aus grösserer Distanz an den Vibrationen erspüren. Verschreckt verlassen sie dann ihre Höhle, verbrauchen enorm Energie und verlieren Wärme. Im Wiederholungsfall kann das zum Erfrierungs- und Erschöpfungstod führen.

Selbst die majestätischen und über alles erhaben scheinenden Adler kann man zum Beispiel im Sommer dadurch vergraulen, dass man sie in der Brutzeit stört. Sie verlassen dann ihr Gelege, und wenn es «dumm läuft», kühlen die Adlereier so aus, dass die ungeschlüpften Jungen darin sterben. 

Schützen und schätzen lernen

Noch bevor wir umkehren, wieder hinunter zur Griesalp und durch die Eiskletterstellen an den Wasserfällen zum Tschingelsee hin, versuchen wir ein Fazit zu ziehen: Der Mensch muss den Umgang mit der Natur wieder neu lernen, sagen wir uns immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln: Peter will sein Wissen zur Verfügung stellen, Jolanda will Menschen sicher auch in die entlegenen Bereiche der Natur führen und während solcher Wanderungen auf diese Problematiken aufmerksam machen und die Menschen dafür sensibilisieren. 

Martin wiederum will die Geschichten erzählen, die dazugehören, und auch Christine und Erwin wollen «es allen weitersagen» und aktiv mithelfen, dass wir alle neu lernen, unsere Natur zu hegen, wie der Jäger sagt, zu schützen und zu schätzen. 

Es liegt dort, in den Bergen, sehr viel in unserer Hand, es ist eine Hand, die «Segen oder Fluch» bringen kann. Das Letztere dann, wenn wir es nicht neu lernen, mit dem uns anvertrauten Erbe pfleglich umzugehen, ja fürsorglich. Aber wir sind am Ende unserer Schneeschuhwanderung positiv gestimmt und glauben, dass wir es neu lernen können, dort, in der Natur, etwas Gutes zu bewirken und unsere Verantwortung wahrzunehmen.