David Senn ist Leiter der chirurgischen Abteilung der AniCura Tierklinik in Thun. Wie sein Alltag aussieht, wieso er diesen Beruf gewählt hat und was er nachts mit der Stirnlampe im Garten treibt.
Text und Bilder: Alina Dubach
Während draussen die ersten Blätter fallen und Zwei- wie Vierbeiner den Herbst begrüssen, spielt die Jahreszeit in der Tierklinik AniCura in Thun kaum eine Rolle. Es herrscht immer reger Betrieb. Das vielköpfige Team ist 24/7 für Tiere und ihre Besitzer:innen im Einsatz.

Bild: David Senn untersucht einen vierbeinigen Patienten.
Im Wartebereich sitzen Hunde neben ihren Besitzer:innen, einige aufgeregt, andere in sich zurückgezogen. Aus einer Transportbox miaut eine graue, offenbar ältere Katze. Ihre Besitzerin spricht ihr beruhigend zu. Im oberen Stockwerk läuft gerade eine komplexe Operation: Ein Tumor ist in eine Vene eingewachsen – ein Anruf bei der Familie wird wohl nötig. Im zweiten Operationssaal finden gleich zwei Eingriffe parallel statt. Eine Hündin wird kastriert, einem Hund ein Auge entfernt. Im Untergeschoss kümmert sich eine Tiermedizinische Praxisassistentin (TPA) liebevoll um frisch operierte Katzen.

Zurück im Erdgeschoss: Hier wird geröntgt, therapiert – auch Computertomografie und Ultraschall laufen auf Hochtouren. Alle Behandlungszimmer sind besetzt. Ein Blick in die digitale Agenda bestätigt – es ist ein intensiver Tag. Mittendrin ist David Senn, Leiter der Chirurgie.
Herr Senn, was prägt Ihren Arbeitsalltag?
Die Abwechslung! Wenn ich arbeite, vergeht kaum eine halbe Stunde, in der ich «einfach nur machen kann». Wir sind konstant im Austausch – wenn nicht mein Telefon klingelt, steht jemand mit einer Frage in der Tür.
Das klingt nach viel Ablenkung.
Das stimmt. Aber es ist auch einer unserer grössten Vorteile. Wir arbeiten über alle Abteilungen hinweg sehr eng zusammen, die meisten sind schon lange hier. Wir kennen uns und können mit wenig Worten unser Vorgehen abstimmen. Es macht grossen Spass, so arbeiten zu können. Gleichzeitig ist es anspruchsvoll und ganz bestimmt nie langweilig.
Sie trennen OP- und Sprechstunden voneinander. Hilft das, Ablenkungen zu reduzieren?
Nein, das hat damit nichts zu tun. Ein OP-Tag klingt sehr geradlinig, tatsächlich werden mir aber regelmässig Nachkontrollröntgen von einer vorangegangenen OP gezeigt, während ich schon am nächsten Fall dran bin. Wir bilden auf allen Stufen aus, das heisst, es kommen regelmässig Fragen von Assistenzärzt:innen zu ihren Fällen. Die Trennung dient vor allem der Effizienz beim Belegen der Sprechzimmer. Operationen lassen sich nie auf die Minute planen, was sich negativ auf allfällige Wartezeiten auswirken würde, wenn wir OP und Sprechstunde mischen würden.
Wie sieht ein typischer Arbeitstag aus?
Die klinische Arbeit und die dazugehörigen Berichte füllen den Grossteil meiner Zeit. Davon sind zwei Teile Chirurgie und ein Teil Sprechstunden. An einem normalen OP-Tag mache ich etwa vier bis fünf Operationen, wenn ganz viel läuft, sind es auch mal acht.

Sie haben schon gesagt, dass Ihnen die Abwechslung wichtig ist. Gilt das auch für Operationen?
Ja, das ist einer der Gründe, wieso ich mich für die Chirurgie entschieden habe. Das Spektrum ist sehr breit. Von Neurochirurgie (Bandscheiben), Orthopädie (Beinbrüche, Kreuzbänder, Gelenkspiegelungen) über Weichteilchirurgie (Fremdkörper im Darm, Kastrationen via Schlüssellochtechnik, Blasensteine entfernen) bis Onkochirurgie (Tumorentfernung: Hauttumoren, Schilddrüsentumoren, Tumoren im Bauchraum) kann alles auf meinem Tisch landen.

Und wie sehen die Sprechstunden aus?
Sprechstundenhalbtage umfassen etwa sechs bis acht Konsultationen. Dazwischen tauchen die bereits erwähnten Fragen und Kontrollen auf. Ergänzend habe ich mit der Abteilungsleitung auch noch einiges zu tun. Manchmal schaue ich abends auf die Agenda und sehe vier Termine, bin aber völlig fertig. Dann weiss ich, es war sehr viel «zwischendurch».
Was gehört zur Abteilungsleitung?
Wir haben regelmässige Sitzungen. Einmal der Austausch zwischen mir und der Geschäftsleitung. Dann die Abteilungsleitersitzung, in der wir uns strategisch ausrichten. Eine Tierärzt:innen-Sitzung, die vor allem informative Inhalte hat. Und die Teamsitzung, in der wir diese Informationen abteilungsintern weitergeben. Als Abteilungsleiter spreche ich möglichst regelmässig mit meinen einzelnen Teammitgliedern, damit ich weiss, wie es allen geht. Und dann gibt es die ganzen fachlichen Aufgaben und den Ausbildungsauftrag.
Ihre Frau arbeitet ebenfalls in der Tierklinik AniCura. Geht es bei Ihnen zu Hause am Esstisch weiter mit der Arbeit?
Kennengelernt haben wir uns während des Studiums im Tierspital. Wir kennen es gar nicht anders. Grundsätzlich besprechen wir Fachliches bei der Arbeit. Aber es ist ja auch normal, zu Hause etwas vom eigenen Tag zu erzählen. Unsere Kinder fragen zum Beispiel am Abend im Bett gerne: «Papa, was hast du heute operiert?»
Und was sagen Sie, wenn Sie an dem Tag drei Beine amputiert haben?
Die Wahrheit. Unsere Kinder wissen sehr viel über die Abläufe in der Tierklinik, sie kennen auch die traurigen Themen. Sie waren zum Beispiel dabei, als wir unseren Hund einschläfern mussten, und sie gingen damit ganz anders um, als wir es erwartet hatten. Den Umgang von Kindern mit dem Tod finde ich sehr spannend.
Inwiefern?
Sie hatten sehr viele Fragen, was macht jetzt welches Mittel genau. Natürlich waren sie auch traurig, aber schon am nächsten Tag haben sie von den schönen Dingen gesprochen, während ich immer noch jedes Mal heulen wollte, wenn das Thema auftauchte.
Sie arbeiten eine 45-Stunden-Woche. Ihre Tage sind von Ablenkungen und emotionalen Extremen geprägt. Wie erholen Sie sich?
Sport ist für mich sehr wichtig. Ich fahre gerne mit dem Velo zur Klinik, aber der perfekte Start in den Tag ist ein Gleitschirmflug. Im Winter fahren wir mit den Kindern gerne Ski und im Sommer spiele ich Beachvolleyball. Und die Gartenarbeit ist ein grosser Teil meiner Erholung. Wir haben das klar aufgeteilt. Ich bin für das Produktive zuständig, meine Frau für das Ästhetische. Ich verarbeite sehr gerne, was ich anpflanze: Konfitüren, Sirup, aktuell habe ich 21 Sorten Chilis. Aus unseren Tomaten mache ich Ketchup, Sugo und Barbecue-Sauce.

Bild: Der Garten ist ein wichtiger Ausgleich zum vollgepackten Klinik-Alltag.
Ein Garten dieser Grösse ist wahnsinnig zeitaufwändig. Sie arbeiten beide, haben Kinder. Wie schaffen Sie das alles in einem Tag?
Kein Fernseher, kein Netflix. Wenn mich Leute fragen, wann ich Zeit für das alles habe, frage ich: «Wann hast du Zeit, um Filme und Serien zu schauen?» Die Aktivität ist meine Erholung. Aber ich merke schon, dass mein Energielevel nicht mehr gleich ist wie mit zwanzig. Und ich habe irgendwann gelernt – als Chirurg musst du schon etwas der Perfektionist sein – dass auch 90% okay sind. Die Kiwi gibt keine Früchte, der Feigenbaum ist auch mehr Zierde und bist du einmal durch mit Jäten, fängt es vorne wieder an. Es kann nicht alles immer perfekt sein. Es kommt auch schon mal vor, dass mich die Nachbar:innen abends mit der Stirnlampe im Garten sehen. Aber diese Zeit für mich schätze ich sehr und geniesse sie.
Wieso haben Sie sich entschieden, Tierarzt zu werden?
Es wäre schön, wenn ich jetzt sagen könnte, dass der kleine David schon früher seine Plüschtiere operiert hat. So war es nicht. Ich hatte schon immer viele verschiedene Interessen. Ich habe viele Berufe geschnuppert. Tiere waren mir immer wichtig. Die Tatsache, dass ein Tierarzt eben sehr zahlreiche Einsatzgebiete hat – im Gegensatz zu den hoch spezialisierten Medizinern für Menschen – war ein wichtiger Teil für mich. Was im Studium noch kein Thema war, ist der psychologische Aspekt. Diesen Teil habe ich mittlerweile sehr gerne. Natürlich sind auch OP-Tage anstrengend, aber anders, als wenn ich einen halben Tag Sprechstunde habe. Das ist emotional anspruchsvoller.

Bild: Katze Ronja gehört bei Senns zur Familie.
Wie meinen Sie das?
Ich erlebe an einem Tag die komplette Bandbreite der Emotionen. In einem Moment schicke ich eine glückliche Familie mit ihrem genesenen Hund nach Hause. Für die nächste Patientin stehe ich mit dem Besitzer vor der Frage, ob es für das Tier noch richtig ist, weiterzubehandeln oder ob es erlöst werden muss. Da fliessen sehr oft viele Tränen, für die meisten sind die Tiere Familienmitglieder. Diesen krassen Wechsel muss ich als Tierarzt aushalten und mit viel Fingerspitzengefühl für Mensch und Tier vorgehen.
Haben Sie ein Beispiel?
Es ist mittlerweile eine meiner Stärken, die Besitzer:innen abzuholen, ihnen Gehör zu geben und ihre Sorgen wahrzunehmen, auch wenn ich aus fachlicher Sicht vielleicht schon längst weiss, was zu tun ist. Die Diagnose zu stellen ist manchmal nicht der schwierigste Teil. Für mich ist der springende Punkt, die Leute ins Boot zu holen, psychologisch gesehen. Wo hole ich sie ab? Was ist nötig, damit sie mir ihr Tier für eine Narkose und Operation anvertrauen? Die einen wollen es gar nicht so genau wissen. Die wollen einfach, dass ich ihr Tier «repariere». Bei anderen merke ich, dass ich einen zweistündigen medizinischen Vortrag halten könnte, die brauchen Details, damit es für sie stimmt. Da ist es nicht immer einfach, die richtige Menge Informationen zu geben. Aber ich würde nicht nur Sprechstunden machen wollen. Das Manuelle ist für mich ein wichtiger Ausgleich.. Etwa einen Beinbruch wieder zusammen puzzeln oder für eine Hauttransplantation noch irgendwo etwas Haut finden. Das ist ein grosser Teil der Faszination an der Chirurgie.
Gibt es eine Geschichte oder Begegnung, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Nach 20 Jahren Tierarzt-Sein könnte man ein Buch füllen, eine einzelne Geschichte rauszupicken ist schwierig. Aber da war dieser etwa 75-jährige Herr. Sein Hund, der ebenfalls schon etwas älter war, hatte einen Kreuzbandriss. Die Heilung dauerte drei Monate. Da meldete sich der Herr: Der Hund hinke, diesmal auf der anderen Seite. Schubladentest gemacht und wieder: Kreuzbandriss. Das gibt es oft – erst die eine, dann die andere Seite. «Es tut mir leid», habe ich gesagt, «Sie wissen jetzt, was auf Sie zukommt. Machen wir das noch einmal?» Er sagte mir, er habe gerade geplant, nicht mehr mit seinem Hund auf dem Boden zu schlafen, sondern das erste Mal wieder im Bett. Mit 75 Jahren! Das ist so eine schöne Geschichte. Trotz der Liebe zum Tier finde ich sehr wichtig, dass sich die Besitzer:innen selbst nicht völlig vergessen. Mensch und Vierbeiner sind ein Team und es muss beiden gut gehen.


Kommt es vor, dass Sie mit Besitzer:innen nicht einer Meinung sind, weil sie zu früh oder zu spät mit einer Behandlung aufhören wollen?
Grundsätzlich versuche ich, Auseinandersetzungen zu vermeiden, indem ich von Anfang an die Leute entsprechend informiere. Es kommt selten vor, dass jemand ein eigentlich gesundes Tier einschläfern will – was ich nicht machen beziehungsweise eine andere Lösung mit den Besitzer:innen suchen würde. Fast mehr Mühe habe ich allerdings, wenn jemand nicht aufhören kann und das Leiden des Tieres verlängert. Aber auch da gibt es Formulierungen, um gemeinsam einen Weg zu finden. Hier ist es wieder eine Frage der Psychologie. Ein Sprichwort besagt, dass Tierärzt:innen bei Besitzer:innen so gut ankommen, wie sie einschläfern. Das fand ich schon im Studium spannend. Ich habe damals versucht, bei möglichst vielen verschiedenen Tierärzt:innen dabei zu sein, wenn sie ein Tier einschläfern müssen, so fand ich einen für mich passende, authentische Weise. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, diese an und für sich traurige Situation mit den Beitzer:innen zusammen respektvoll zu gestalten.
Was würden Sie sich allgemein von Tierhalter:innen wünschen?
Es gibt diesen Spruch: «Augen auf beim Haustierkauf». Das finde ich sehr wichtig. Dass sich die Leute sehr gut informieren, ehe sie ein Tier anschaffen. Das wäre zum Beispiel bei uns möglich. Wenn man einen Hund oder eine Katze will, können wir bei Haltung, Pflege und Rasse beraten. Und ein ganz wichtiger Punkt: Woher kommt das Tier? Die Tierheime sind voll – in der Schweiz und im Ausland. Gerade bei Letzterem ist es wahnsinnig wichtig, dass man genau schaut, ob das wirklich eine seriöse Tierschutzorganisation ist. Es gibt ganze Farmen, die unter schrecklichen Bedingungen Hunde züchten und diese dann als hilfsbedürftig darstellen. Wer sich nicht gut informiert, unterstützt solche Geschäfte. Auch hier helfen wir gerne bei der Beurteilung.
Diese Infos brauchen Tierärzt:innen wirklich
Oft ist es nicht ganz einfach «aus dem Kopf» alle wichtigen Informationen parat und strukturiert zu haben. Mit etwas Vorbereitung erleichtern Besitzer:innen die Diagnosestellung:
Chronologisch: Was ist wann passiert. Datum, allenfalls mit Uhrzeit.
Aktuell: Es geht um die aktuellen Beschwerden. Ein Beinbruch von vor drei Jahren ist bei Erbrechen nicht relevant.
Gewichtung der Symptome: Erstmal ansprechen, was gerade «schlimm» ist. Weitere Erkrankungen später erwähnen.
Vordiagnosen: sofern relevant.
Unterlagen von extern: Wenn zum Beispiel bereits Röntgenbilder oder Laborwerte existieren, diese mitbringen.
Videos: Eigenartiges Verhalten oder Lahmheit filmen.
Medikamente, die verabreicht werden, mitbringen oder Namen und Dosierungen aufschreiben.
Sämtliche der oben genannten Angaben können bereits vorab aufgeschrieben und an die Tierklinik geschickt werden. Das erleichtert die Aufarbeitung.
Kontakt
AniCura Tierklinik
Thun Burgerstrasse 11, 3600 Thun
Telefon 033 222 44 77
www.anicura.ch