Ruth Seelhofer: Ein langes Leben in Spiez
Ruth Seelhofer: Ein langes Leben in Spiez
Ruth Seelhofer erzählt von einer Zeit, an die sich heute nur noch wenige erinnern, und gewährt einen Einblick ins Leben in Spiez vor fast 100 Jahren.
Text: Iris Lengyel | Fotos: zvg
Ruth Seelhofer sitzt in ihrem Stuhl auf der sonnigen Terrasse des Alters- und Pflegeheims Eigen in Spiez. Seit vier Jahren lebt die bald 93- Jährige nun da und geniesst die Zeit. «Ich sagte immer, ich gehe nie ins Altersheim, weil mir zuhause wohl war und ich mir noch immer selber helfen konnte. Doch dann kommt das Alter und man kann sich nicht mehr immer selber helfen.»
Im Jahr 1923 in Spiez geboren, bleibt Ruth Seelhofer ihrer Gemeinde bis ins hohe Alter treu. Im Laufe der Jahre hat sich in Spiez einiges verändert. «Als erstes einmal die Einwohnerzahl», meint sie lachend. Dann fährt sie etwas ernüchtert fort: «Früher kannte man viele Leute, wenn man einkaufen gegangen ist. Immer wieder ein ‹Sälü, Grüess di› – und jetzt, in den letzten Jahren, kannte ich in Spiez nicht mehr Leute als in Thun. Da war man sich früher schon viel näher.»
Die Primarschullehrerin unterrichtete während 41 Jahren an der Primarschule Spiezmoos. Im Gegensatz zum Dorf, hat sich in der Schule nicht viel verändert. «Es hat immer ‹Fägnäschter› und ‹Brave› gegeben und ‹Schwierige› und ‹Einfache›. Vielleicht hat sich in den letzten Jahren durch die Online-Welt und Handys etwas verändert, aber während meiner Zeit sah ich keine grossen Unterschiede bei den Kindern in all den Jahren.» Wer so lange unterrichtet, erlebt vieles. Ruth Seelhofer hat die besten Anekdoten in einem Notizbüchlein aufgeschrieben. «Wir zeichneten Bären, ich vorne am Tisch, die Kinder am Platz. Ein Mädchen kam zu mir: ‹Dir, dr Rügge u Bei simer no guet glunge, aber darf i nid bi eurer Schnurre abluege?›» Ruth Seelhofer lacht – man merkt, wie sehr sie das Unterrichten liebte und wie ihr die Kinder noch immer am Herzen liegen.
Im Juli 1940 unternahm die ganze Familie Seelhofer eine Reise ins Wallis. Es ist das erste Mal, dass Ruth Seelhofer Spiez für einige Tage verlässt. «Zu dieser Zeit konnte man ja kaum reisen, wir hatten kein Auto. Wir sind manchmal über den See nach Gunten und wenns hoch kam, dann sind wir noch nach Interlaken, weiter nicht. Aber nachdem ich aus dem ‹Semer› gekommen war, unternahmen wir mit dem Zug diese Reise ins Wallis, das war schon sehr abenteuerlich.» Über die Erlebnisse auf ihrer Reise verfasste die Familie ein Heft mit Gedichten und Illustrationen, welches auf den nächsten Seiten hier abgedruckt ist.
Ihr Vater, Adolf Seelhofer, war in Spiez eine angesehene Persönlichkeit. Er belieferte mit seinem Lebensmittelgeschäft «Ludwig & Gafner, zur Diana» Hotels im ganzen Oberland und im Wallis und gehörte zu den Spiezer Rebbau-Pionieren. «Er hatte gerne weissen Wein, und Hans Barben setzte ihm einen Floh hinters Ohr: ‹Adolf, hilfst du, wir möchten in Spiez den alten Rebbau wieder ins Leben rufen.›» Und so kauften die sechs Rebfreunde Hans Barben, Karl Fischer, Eduard Lörtscher, Johan Trachsel, Ernst Tschanz und eben Adolf Seelhofer im April 1927 im «Vogelsang» ein Grundstück über 183m² und setzten mit dem Anbau von Riesling x Sylvaner den Grundstein für die heutige Spiezer Weinkultur. Die Familie Seelhofer wohnte im Chalet «Waldrand» am Spiezberg und erschuf sich ihr eigenes, kleines Paradies.
Neben ihrer Tätigkeit als Lehrerin hat Ruth Seelhofer eine Leidenschaft für Musik: Sie erlernte das Geige- und Bratschespielen. Aber auch mit Klavier und Schwyzerörgeli konnte sie musizieren. Und sie sang viel, in Chören, bei Singwochen. Die Musik begleitete sie ein Leben lang, doch im Alter machte der Körper irgendwann nicht mehr mit. «Mein Körper sagte: ‹Halt›, der ‹Schlotter› kam und auch die Ohren wurden zu schlecht, um noch Musik hören zu können.» Ruth Seelhofer musste sich ein neues Hobby suchen und begann, Gedichte auswendig zu lernen und zu rezitieren. «Ich dachte mir, ich will nicht nur an meine ‹Bobos› denken, ich will auch etwas Schönes haben, und so begann ich, einige Gedichte auswendig zu lernen. Zuerst jede Woche eines, das sind schon 52 pro Jahr, diese habe ich dann immer wiederholt und jetzt durch all die Jahre sind es also lächerlich viele geworden. «Dies ist mein tägliches Gedächtnistraining.»
Die Gedichte von Christian Morgenstern gefallen ihr am besten. «Ein Lieblingsgedicht von Morgenstern auszuwählen ist schwer, mir gefallen alle. Aber das Wanderlied vom Abendwind vertragen ist besonders schön.»
Ruth Seelhofer fühlt sich wohl im Alters- und Pflegeheim Eigen. «Also das Altersheim, mich dünkt das ideal. Nicht riesengross, man kennt einander, man ist betreut aber nicht eingeengt.» Und der Zufall will es, dass sie dort alte Bekannte wiedertrifft.
«Ich habe das grosse Glück, dass eine liebe alte Freundin, mit der ich seit 30 Jahren guten Kontakt habe, eines Tages auch dahingekommen ist. Und jetzt sind wir drei Meter auseinander und jeden Abend nach dem Znacht kommt sie entweder zu mir oder ich gehe zu ihr und wir können zusammen reden. Dass wir beide da gelandet sind, ist ein Geschenk. Das hat so viel Wert für mich.»
Und falls sie eines Tages nicht mehr lesen kann, hat Ruth Seelhofer auch schon einen Plan. «Dann spiele ich Patience, das ist dann so richtig alte Dame.»
«Hans Seelhofer hatte gerne weissen Wein, und Hans Barben setzte ihm einen Floh hinters Ohr: ‹Adolf, hilfst du, wir möchten in Spiez den alten Rebbau wieder ins Leben rufen.›»
Die Saison, die ist leider flau!
Da ist der Papa wirklich schlau
und sagt: «We ds Gschäft nid besser geit,
so gönne mir üs eis e Freud;
ir hauens, und zwar ins Valais
die ganz’ Familie ruft: Juhee!
Denn diesmal, das ist wunderbar,
darf mit die ganze Töchterschar!
Drei Tage fort von Gschäft und Sorgen,
wie freuen wir uns ohne Borgen.
Wir machen Pläne, raten, schwärmen,
die Vorfreud tut uns schon erwärmen.
Und plötzlich ist der Plan so weit,
für Sonntag heisst es: Marschbereit!
Am Morgen auf dem Perron drei,
da kommt ein Kondukteur vorbei
und führt uns, ohne viel zu sagen
in einen Zweitklassluxuswagen.
Unsre Freude die ist gross;
Denn so reisen ist famos.
In Frutigen zur linken Hand,
betrachten wir die Silowand
und unsre Käthi, wirklich klug,
kann gar nicht äussern sich genug,
dass dieser Silo, s’ist doch wahr
am falschen Ort steht, bei Fliebergefahr.
Es meint, und das ist wirklich gschid,
der rechte Ort wär Aeschiried.
Um neun Uhr landen wir in Brig
und machen uns an den Aufstieg
nach Blatten, wo im Gasthaus fein,
man nimmt ein Mittagessen ein.
Und weiter geht’s nach Belalps Höhn
der Petrus macht das Wetter schön.
Die Aussicht tut uns sehr erfreuen
und wir erkennen hier von neuem
wie schön ist unser Schweizerland!
Herrgott, beschirm’s mit Deiner Hand!
Zum Diner im Belalpkurhaus
da gibt es gar ’nen leckren Schmaus:
Reis, Pommes de terres und Suppenhuhn,
man kann sich wirklich gütlich tun.
Nur klebt der Reis etwas im Munde,
da angesichts der frohen Stunde,
schenkt Papa allen Roten ein,
o je, die Wirkung die ist fein!
Am zweiten Tag zur siebten Stunde
ist alles munter in der Runde.
Denn heute gibt’s die grosse Fahrt,
der Führer ist auch schon parat.
Der Führer? Ja, nun hört mal her
heute geht es über’n Aletschgletscher.
Der Führer, flotter Solidat,
der auf Belalp zu wachen hat,
nimmt, tschent, noch einen Pickel mit
und führt uns an, mit sich’rem Schritt.
Der Weg hinab zu Gletschers Schründen
ist steil und tut sich ziemlich winden;
doch sind wir alle gut zu Füssen.
Da fängt es plötzlich an zu giessen.
Nicht stark, doch stet und mit Ausdauer,
es riecht so recht nach Regenschauer.
Auf halbem Weg zu Gletschers Bahn
schliessen sich uns zwei Zürcher an.
Der Nebel versteckt die Felsen und Zacken,
doch diese Stimmung tut uns grad packen.
Man sieht nur weiss und schwarz und grau
verführerisch leuchtet der Schründe blau
und schwarz, wie eine lange Zunge,
zieht sich die Moräne mit schickem Schwunge!
Das wird zum Erlebnis, zum grossen Moment
wenn man das Eis nur vom Sagen kennt
und steht dann plötzlich mitten drin!
Man ist ganz stolz, man ist ganz hin!
Der Führer pickelt und Stufen schlägt,
wir steigen langsam, doch unentwegt.
Der Einstieg ist gottlob gelungen,
am liebsten hätte ich gesungen.
Doch halt, jetz heisst es sich benehmen,
sonst muss man sich am End’ noch schämen;
Denn nichts ist gar so glatt wie Eis,
einjeder das noch sicher weiss.
Und wenn auch Schmutz und Stein es decken,
darunter tut sich s’Eis verstecken,
und eh man sich’s nur recht versieht,
ist auf den Hintern man placiert!
Gell Käthi, du kannst davon künden,
du tätst dir gar die Finger schinden.
Hurrah, da kommt der erste Schlund.
er ist nicht breit, doch s’ist ein Schlund.
Ein kleines Sprünglein gibt’s zu machen,
wir sind ganz stolz und müssen lachen.
Die Zürcher sind auch sehr galant
und reichen freundlich uns die Hand.
Mehr Schründe treffen wir noch an,
vor jedem bleibt man hurtig stahn,
und schaut hinunter, staunt und steht –
wie weit das wohl hinunter geht?
Gen Aletschwald geht’s nun hinaufen
und Papa muss ein wenig schnaufen.
Wir alle freuen uns zur Zeit an Aletschwaldes Einsamkeit.
Er ist so still, fast schauert mich,
so ruhig, ja, grad feierlich.
Nach einem kurzen Aufenthalt
geht’s weiter dann nach Riederalp,
wo wir, mit gutem Appetit,
verzehren was man uns serviert.
Darauf wir Jungen wieder starten,
wir mögen einfach nicht mehr warten
und woll’n, wenn sich die Nebel lüpfen,
aufs Eggishorn noch heute hüpfen.
Papa und Mama mit Gemach
sie folgen uns in Bälde nach.
Freuet euch, wir sind am Ziel
fertig ist das nasse Spiel,
und es tut uns sehr gefallen
in des Hotels warmen Hallen.
Im Cheminée da prasselt das Feuer,
draussen toben Ungeheuer.
Tropfe Regen! Nebel walle!
Drinnen sind wir glücklich alle,
dass wir alle miteinander einmal
fort zusammenwandern!
Ziemlich früh geh’n wir zur Ruh’
schliessen froh die Augen zu,
Morgen wird es besser sein!
Morgen hat es Sonnenschein!
Am Morgen, s’ist schon heller Tag,
tritt Käthi froh an unsern Schlag
und spricht: Steht auf, Macht euch bereit!
Fürs Eggishorn ist’s höchste Zeit!
Denn hie und da, fast will ich meinen,
tut schön und zart die Sonne scheinen.
Wir stärken uns beim Morgentrunke
und in uns glüht ein Hoffnungsfunke,
dass wir, wenn wir so recht vertrauen,
ein bisschen Aussicht werden schauen.
Die Zürcher, auch schon frisch und munter,
die wollen gleich den Berg hinunter.
Bei dieser düsteren Zuversicht
auf’s Eggishorn da wollen’s nicht.
Doch wir vier starten unbesonnen,
denn frisch gewagt, ist halb gewonnen.
Durch Weidland führt der Weg hinauf.
Du Käthi sag, wie geht der Schnauf?
Wir steigen und der Nebel dichtet,
doch die Hoffnung nicht vernichtet!
Nun gibt’s ein Schneefeld zu durchqueren,
das täten wir grad nicht begehren.
Es ist so trüb, man sieht nicht gut,
fast will mir schwinden hier der Mut.
Und jetzt, oh Wunder, sieht man ihn,
den Gletscher, oh, wir sind ganz hin!
Die letzten Stufen bis zum Ziel,
die nehmen wir im Sprung und Spiel!
Wir staunen, ei, wie wunderbar!
Nun wird es heller, ja fast klar.
Der Nebel treibt hinauf, hinunter,
es ist so schön, wir sind ganz munter.
Nicht wahr, wir haben recht getan?
Da plötzlich gibt’s ein Nebelloch,
juhui, man sieht bis Jungfraujoch!
Jetzt müssen wir zufrieden sein,
denn diese Aussicht, die ist fein!
Nach einer Stunde Aufenthalt,
da wird es leider etwas kalt.
Wir brechen auf und steigen ab,
die Zürcher führen an im Trab.
Die warme Supp’ im Hotelsaal,
die gibt uns Kraft zum Gang ins Tal.
Nach Fiesch hinab soll er uns führen,
wo wir im Glacier wollen z’vieren!
Je tiefer wir hinunter kommen,
je schöner leuchtet uns die Sonnen.
Je dümmer wird es uns im Sinn!
Wie wird das enden noch bis Binn?
Wir müssen wieder einmal lachen
und ungewollte Sprüche machen.
Der Papa spricht von Mittagsmelken,
darüber tut ihn Mama helken.
In Fiesch da merken wir, oh Wonne,
noch etwas von der Wallissonne,
die uns vom blauen Himmel lacht
und uns ein bisschen braun noch macht!
Bei Wallisfleisch und Aufschnittwurst
Mit Fendant löschen wir den Durst
Da wird der Geist uns wieder munter,
warm fliesst der Fendant uns hinunter!
Zum Dessert gibt’s, ihr werdet hören!
Nichts weniger als Walderdbeeren!
Und Rahm dazu, wer tät’s erwarten?
Ja, Rahm gabs damals ohne Karten!
Gar gütlich täten wir uns dran,
nicht öfters tut man solches han.
Tut tut, macht’s vor dem Haus, ahaa,
die Autobähne ist schon da,
die uns, nunmehr mit frohem Sinn,
noch hurtig führen soll nach Binn.
Die Fahrt durchs Binntal ist famos,
das Wetter ist gerade gross.
Grün sind die Wiesen, blau der Himmel,
vorbei das graue Nebelgewimmel,
frisch rauscht die Binn das Tal hinaus,
und sonn’gebräunt grüsst ds Wallishaus.
Oh, ist die Fahrt nach Brig noch schön!
In Gold steh’n Berge, Wald und Höhen!
Doch kann ich gar nicht mehr aufpassen,
ich bin so voll, kann nichts mehr fassen,
so voll von all’ der Pracht und Grösse!
Wohin mit all’ der Bilder Grösse?
Ich glaub’ mir ist die Seele satt,
ich lieg zurück und bin ganz platt!
Schon kommen gut in Brig wir an
und steigen in die Lötschbergbahn.
Leb’ wohl, Valais, du schönes Tal!
Auf Wiederseh’n ein andermal!
Gedichtet hat Elisabeth Seelhofer, Schwester von Ruth.
Die Illustrationen stammen von einer Bekannten.
Läset in Spiez: hinterste Reihe, erster von links: Adolf Seelhofer, dritter von rechts: Hans Barben, vorne sitzend von rechts: Elisabeth Seelhofer und daneben Verena Seelhofer.
Ruth Seelhofer und Käthi Seelhofer am «Grossmüetifescht» in Bern.
Zweitklässler 1956, Primarschule Spiezmoos: hinterste Reihe, erste von rechts: Ruth Seelhofer, Lehrerin.
Ruth Seelhofer, Lehrerin, in der «Baracke», Primarschule Spiezmoos.
Adolf Seelhofer und Hans Barben.
Das Chalet «Waldrand» am Rebberg in Spiez.