Thomas Ulrich: Ein echt vernünftiger Spinner

Thomas Ulrich: Ein echt vernünftiger Spinner

Thomas Ulrich: Ein echt vernünftiger Spinner

Thomas Ulrich lebt mit seiner Partnerin in Beatenberg. Den 48-jährigen Vater von drei Töchtern kennt man als Abenteurer und Extremfotograf, als einen, der sich an seine Grenzen herantastet – und manchmal auch darüber hinaus. Der Versuch einer Annäherung.

Text: Thomas Bornhauser | Fotos: Thomas Ulrich, visualimpact.ch

«Thomas Ulrich, was ist das für ein Gefühl, wenn man den Tod vor Augen und zu Hause Familie hat, wenn fremde Helfer unter ungewöhnlichen Umständen einem das Leben retten?» Ich konfrontiere einen aussergewöhnlichen Zeitgenossen gleich zu Beginn unseres Gespräches mit der Mutter aller Fragen, gleichermassen als Kaltstart, zurückzuführen auf ein Erlebnis im Jahre 2006 auf seiner einsamen Nordpol-Expedition, als ziemlich alles schief lief und er im letzten Moment von der Besatzung eines russischen Helikopters gerettet werden konnte. So ein Spinner.

Zu meinem Erstaunen versucht Thomas Ulrich gar nicht erst, das Thema zu umgehen oder die Dramatik des Augenblicks herunterzuspielen: «Die schlimmste Zeit war für mich nicht die Situation an sich, da man in solchen Momenten einfach ‹funktioniert›, sondern die Zeit danach, als ich wieder zu Hause war, in die Augen meiner Familie und meiner Freunde schauen musste, schauen durfte. Viele Fragen mussten beantwortet werden: Hatte ich etwas falsch gemacht, etwas unterschätzt, etwas Wichtiges bei den Vorbereitungen vergessen?» 

Blenden wir kurz zurück: 2006 versucht der Schweizer Fotograf und Bergführer, das Eisschild des Arktischen Ozeans allein von Sibirien nach Kanada zu durchqueren (was er in seinem Fotobuch «Horizont Nord» eindrücklich beschreibt). Die Expedition scheiterte jedoch bereits nach wenigen Tagen, seine Rettung grenzte an ein Wunder und brachte ihm neben viel Achtung unter Kollegen auch eine gehörige Portion Kritik ein, vorab in den Medien. Thomas Ulrich spricht heute ohne ersichtliche Emotionen über jene Zeit, die ihn viel gelehrt hat. Er erwähnt auch ohne Hemmungen und mit einer entwaffnenden Offenheit, dass er professionelle Hilfe in Anspruch nehmen musste, um mit dem Erlebten klarzukommen. Er weiss aber auch: Es waren unkalkulierbare Umstände – vor allem die Meteo – die ihn in diese Gefahr gebracht hatten. Nur dank der eben minutiös geplanten Vorbereitungen samt einer möglichen Evakuation war es dem besagten Rettungshelikopter überhaupt möglich, ihn an die Heli- Basis zurückzufliegen.

Eiger-Besteigung wie anno dazumal

Nicht nur durch diese Erfahrungen können Interessierte vom Know-how des diplomierten Bergführers profitieren. Jedes Jahr – seit 2004 – organisiert Thomas Ulrich eine Reise zum Nordpol für kleine Gruppen, jeweils während zwei Wochen im April. Diese Expeditionen unterscheiden sich grundsätzlich vom soeben beschriebenen Unternehmen. Und je länger man mit Thomas Ulrich spricht, umso klarer wird, dass er gar nichts mit einem egoistischen Spinner gemeinsam hat, gar nichts. Im Gegenteil: Zwar geht er an Grenzen, aber diese bleiben zum Beispiel bei den Arktis-Expeditionen mit Gästen im Rahmen der menschlichen Vernunft. Was wiederum nicht heisst, dass man sich mit ihm auf einen Maibummel begibt. Die Anstrengungen der Reise mit einmaligen Erlebnissen will er mit anderen teilen.

Weshalb aber überhaupt die Herausforderungen? Vielleicht liegt es am Eiger, vor dessen grossartiger Kulisse er aufwächst. Er steht mehrmals auf dem Gipfel, einmal 2001, im Rahmen einer Besteigung mit der Ausrüstung der Erstbesteiger. Dieses Projekt ist seine eigene Idee, er hält es mit der eigenen Foto- und Filmkamera im Bild fest, woraus schliesslich ein Buch und ein Film für das Schweizer Fernsehen und Arte entstehen.

24 Stunden lang hell

Wie muss man sich als Teilnehmer die Expedition Nordpol (siehe Kästchen) vorstellen? Hier die Kurzfassung eines wirklich unglaublichen Erlebnisses. Die Anreise führt die Gruppe über Oslo nach Spitzbergen, weiter geht es mit einer russischen Spezialmaschine, die für kurze Landepisten gebaut wurde, nach Borneo, einer im Eis treibenden russischen Forschungsstation am 89. Breitengrad. Die Stecke von Borneo aus zum Nordpol, die die Gruppe zu Fuss zurücklegt, beträgt 120 Kilometer. Dafür werden sieben bis zehn Tage einberechnet. Und das alles bei 24 Stunden Tageslicht.

Die Temperatur bewegt sich normalerweise im Bereich von 25 bis 35 Grad. Minus. Tagwache ist jeweils um 7.00 Uhr, damit genügend Zeit bleibt, um Eis und Schnee für die Thermosflaschen zu schmelzen und abzukochen – und das braucht seine Zeit… Nach zwei bis drei Stunden geht es auf zum Tagesmarsch, sieben bis zehn Stunden, je nach Wetter. Es werden regelmässig kurze Pausen abgehalten, um Kalorien zu tanken. Diese Zwischenhalte sind so kurz, damit man nicht zu frieren beginnt. Thomas Ulrich: «Wir durch- queren ein gefrorenes Meer mit 4000 Meter Wasser unter dem Eis.» Das macht auch die ganze Landschaft so einzigartig, weil sich während der Eiswanderung Packeis, kompakte Eisfelder, dünne Eisstellen und offenes Wasser abwechseln. Thomas Ulrich: «Am Abend müssen wir als Erstes einen sicheren Zeltplatz auf einer grossen, stabilen Eisplatte finden, bevor wir das Camp aufbauen und mit den Vorbereitungen für das Abendessen und das neuerliche Schneeschmelzen beginnen, denn jeder Mensch benötigt in dieser Umgebung und bei dieser Leistung rund vier Liter Wasser pro Tag.»

«Hatte ich etwas falsch gemacht, etwas unterschätzt, etwas Wichtiges bei den Vorbereitungen vergessen?»

Körperliche Fitness vorausgesetzt

Voraussetzung für diese Expedition ist ein ausgezeichnetes Durchhaltevermögen für die sieben bis zehn Tage auf dem Polarkreis. Während eines obligatorischen Vorbereitungs-Weekends im Winter in den Schweizer Bergen erlangen die Teilnehmenden die Gewissheit, dass sie für die Reise zum Nordpol bereit sind. Die eigentliche Ausrüstung – Zelte, Schlitten, Schlafsäcke, Kocher und Kochmaterial, Satelliten-Telefon sowie Verpflegung – wird dann zur Verfügung gestellt. Übrigens, sozusagen als «Randnotiz»: Die Expeditionsleitung ist mit Schusswaffen und Warnschüssen ausgerüstet, falls man auf Eisbären trifft. Diese Tiere halten sich für gewöhnlich nicht so weit nördlich auf, aber es gibt auch im Tierreich Ausnahmen, die es im Fall der Fälle zu berücksichtigen gilt…

    Nordpol «Last Degree» Trip

Die Teilnehmenden – der Jüngste bislang 15 Jahre alt, der Älteste 75 – erleben die Arktis mit all ihren Facetten auf eine Weise, wie sie nur wenigen Menschen vergönnt ist. Hinterher sieht vieles im Alltag ganz anders aus. Die Sicherheit während der ganzen Reise steht an höchster Stelle, eine Verbindung zur Helikopter-Basis in Borneo besteht. Weitere Infos: www.thomasulrich.com

    Kreativ sein. Innovativ denken.

Wen kann es erstaunen, dass Thomas Ulrich das Erlebte weitergeben will? Viele bekannte Unternehmen ermöglichen es ihren Mitarbeitenden – nicht bloss Kadern –, von den Erfahrungen des Pioniers zu profitieren, anlässlich von Vorträgen und/oder Seminaren. Woran muss man denken, wenn aussergewöhnliche Situationen auftreten? Was bedeutet Teamarbeit? Thomas Ulrich kennt keine allein gültige Regeln, hat jedoch verblüffend einfache Vorschläge parat.

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