Ein Leben im Alter: Eine Beziehung der ganz besonderen Art
Ein Leben im Alter: Eine Beziehung der ganz besonderen Art
«Herr Frischknecht wird vor der Cafeteria auf dich warten, auf dem grünen Sofa.» Das die Regieanweisung von Sonnmatt-Betriebsleiter Jakob Hari. Und in der Tat: Obwohl ich (wie fast immer) viel zu früh bin, ist Walter Frischknecht noch vor mir da. Neben ihm Irma Dummermuth, die mir im Moment nur verrät, dass sie Walter Frischknecht seit bald 20 Jahren kennt. Mehr sagt sie nicht, umso grösser die Überraschung während unseres Gespräches. Aber alles schön der Reihe nach.
Text: Thomas Bornhauser | Fotos: Thomas Bornhauser, zvg
Walter Frischknecht lebt seit einem Jahr in der Sonnmatt. Geboren ist er am 22. Oktober 1932 in Zürich, verbringt dort auch seine Schulzeit, im Schulhaus Schanzengraben. Die Familie – Vater PTT-Beamter – ergänzen drei Schwestern und ein Bruder, wobei nur noch eine Schwester lebt, in einem Zürcher Alterswohnheim, heute 95-jährig.
«Ich konnte ihn nicht sich selbst überlassen, schon deshalb nicht, weil Walter nicht kochen konnte.»
Zweimal Witwer
Walter Frischknecht erlernt den Beruf eines Elektrikers, arbeitet zwei Jahre auf diesem Gebiet, um sich anschliessend bei der Maschinenfabrik Oerlikon als Maschinenzeichner weiterzubilden, samt Lehrabschluss. 12 Jahre wird er in Zürich verbringen, bevor er 1967 nach Biel zügelt. Der Grund: Cherchez la femme. Dora Hunziker und er – sie haben sich «per Zufall» im Bahnhofbuffet Olten kennengelernt, wie er sich erinnert – heiraten im gleichen Jahr, leben 30 Jahre lang in Biel-Madretsch, bleiben kinderlos. Walter ist bis zu seiner Pension 1997 als Elektrozeichner bei der Alfa Elektrotechnik in Nidau beschäftigt. Übrigens: Militärdienst kann Walter Frischknecht nicht leisten, weil er eine Gehörschwäche hat, die ihn auch heute noch beeinträchtigt.
1985 der erste schwere Schicksalsschlag: Dora stirbt nach schwerer Krankheit 1985 mit nur 52 Jahren. Drei Jahre lebt Walter Frischknecht allein, heiratet dann ein zweites Mal, Ruth Stegmann. Es war der Wunsch der Thunerin, nach der Pensionierung von Walter ins Berner Oberland zurückzukehren, was die beiden dann auch tun konnten.Sie zogen an den Balmweg 22, Ruth allerdings nur für drei Jahre. Auch sie stirbt mit 66 Jahren an Lungenkrebs, obwohl sie nie geraucht hat.
Die erstaunliche Irma Dummermuth
«Was hatten oder haben Sie für Hobbies?», frage ich Walter Frischknecht, der schon bei der Fragestellung glänzende Augen bekommt. «Ich war Musiker, über 50 Jahre lang!» Genauer gesagt: Er hat zusammen mit seinem Bruder und mit seinem Schwager Appenzeller Volksmusik gemacht, bei der «Kapelle Ebenalp», die 1933 von seinen Eltern gegründet wurde. Die Ebenalp ist das nördliche Ende des Alpsteins und liegt im Kanton Appenzell-Innerrhoden. Walter spielt das Hackbrett, sein Bruder die Bassgeige, der Schwager Handorgel. Von Zeit zu Zeit komplettieren seine Schwester und seine Schwägerin das Trio als Jodlerinnen. Hat er sein Hackbrett noch? «Nein, ich habe es meinem Neffen gegeben, keine Ahnung, wo es heute steht oder liegt.» Dennoch: Es gibt ein Hackbrett, das Walter Frischknecht gehört – jenes seines Vaters. Und dieses wird vom Sohn von Irma Dummermuth gehütet, womit die fast Gleichaltrige beim Gespräch sozusagen ins Spiel kommt, besser gesagt, in die Lebensgeschichte von Walter Frischknecht.
Irma Dummermuth verliert ihren Mann Ernst, als er 68 Jahre alt ist. Die Bernerin, in Thun-Dürrenast aufgewachsen, sitzt neben mir, als ich mit Walter Frischknecht rede. Es stellt sich heraus, dass sich die beiden seit über 20 Jahren kennen, sie, die Witwe, und das Ehepaar Frischknecht. Als Ruth stirbt und auch Walter den Alltag allein bewältigen muss, ist für Irma Dummermuth klar: «Ich konnte ihn nicht sich selbst überlassen, schon deshalb nicht, weil Walter nicht kochen konnte.»
Eine seltene Bande
Und das heisst: Während 17 Jahren – so erzählt sie neben mir in der Cafeteria der Sonnmatt sitzend – kocht Irma für Walter Zmittag und Znacht und besorgt ihm die Wäsche. Eine fast unglaubliche Geschichte, wenn man weiss, wie sehr die Menschen heute mit sich selber beschäftigt sind. Vor allem: Sie, die sie heute auf einem Auge blind ist, stellt sich nicht in den Vordergrund, für sie war/ist diese Art von Nächstenliebe offenbar normal. Sie arbeitete übrigens 30 Jahre lang im Service, hat alles im Hotelrestaurant Sommerheim – dem heutigen Alpha – von Grund auf gelernt: kalte Küche und warme Küche, davon konnten vor allem Sportler nach ihren Trainings auf den nahegelegenen Sportstätten profitieren: Spieler des FC Dürrenast, des FC Thun, aber auch Leichtathleten.
Wie kam es dazu, dass Walter Frischknecht vor einem Jahr in die Sonnmatt zügelte? «Es war nicht freiwillig», sagt er traurig, «man hat den Balmweg 22 saniert, alle Mieter mussten ausziehen, ich blieb bis zum letztmöglichen Zeitpunkt, dann hat man mir ein Ultimatum gestellt, bis zum angegebenen Tag musste ich raus, sonst werde man zwangsräumen. Mir blieb also nichts anderes übrig – und das in meinem Alter.» Mit dem Schicksal mag er nicht hadern, im Gegenteil: Ihm gefällt es in der Sonnmatt. Weil das Gehör ihn Zeit seines Lebens im Stich gelassen hat, schaut er nicht viel Fernsehen, er liest lieber, «vor allem die Magazine», wie sie in der Sonnmatt aufliegen. So nimmt er am Zeitgeschehen teil. Die «ThunerseeLiebi» zählt zu seinen Favoriten. Er hat deshalb auch nichts dagegen, wenn seine Lebensgeschichte demnächst dort zu lesen sein wird.
Dramatische Wende
Und Irma Dummermuth, welcher Weg führte sie in die Sonnmatt? «Es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre überhaupt nicht mehr hier.» Die Umstände sind in der Tat dramatisch: Der Blitz schlägt in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung am Dahlienweg in Thun ein. «Es gab einen gewaltigen Knall in der Stube, was dazu führte, dass Fernseher, Radio, Telefon, DVD und Gegensprechanlage kaputt gingen. Es war furchtbar.» Man glaubt es ihr aufs Wort. Zur Sicherheit wurde die 88-Jährige zur Untersuchung ins Spital überführt. Körperlich gehe es ihr gut, aber seit dem Einschlag sei sie extrem schreckhaft, «chlüpfig». In die Wohnung zurück wollte sie deshalb nicht. Und was lag da praktisch auf der Hand? Genau: Sie folgte Walter Frischknecht Ende 2019 in die Sonnmatt, nach einem fünfwöchigen Zwischenhalt im Lädelizentrum. Irma Dummermuth, deren Sohn Erich sich nach wie vor rührend um die beiden kümmert und ihnen im Alltag hilft, hat nur einen Wunsch: «Ich werde bei Doktor Jost nachfragen, ob er mir ein stärkeres Brillenglas verschreiben kann, damit ich mit dem einen Auge wieder besser sehen kann.»
Bleibt eigentlich nur eine einzige Frage, respektive Antwort in Anbetracht dieser jahrelangen und sehr ungewöhnlichen Beziehung: Haben die beiden nie daran gedacht zusammenzuziehen? Schliesslich leben sie auch heute in eigenen Zimmern. Beide lachen: «Nenei, es isch guet, wies isch, mir wei nüt dra ändere!»