Cirillo Bullegato: «Zwischendurch war ich ein Vagant.»
Cirillo Bullegato: «Zwischendurch war ich ein Vagant.»
Es ist wieder eines dieser schönen Gespräche – eine Gelegenheit mit älteren Menschen über deren Leben zu sprechen, das so anders verlaufen ist als unser eigenes. Bei Cirillo Bullegato, der zusammen mit seiner Frau im Thuner Hohmadpark lebt – wenn auch in getrennten Zimmern – ist es nicht anders.
Text: Thomas Bornhauser | Fotos: Thomas Bornhauser, zvg
Er wird am 12. Mai 1929 in San Donà di Piave geboren, in der Provinz Venezia, als ältestes von insgesamt neun Kindern – sieben Buben und zwei Mädchen. Sein Vater ist Bauer, entsprechend hat auch Cirillo im Hof zu arbeiten. Nach der Schule kann er keine eigentliche Ausbildung beginnen, deshalb bleibt er auf dem Hof. Die Arbeit dort ist «learning by doing». Mit 20 muss er beim Militär antraben, 16 Monate insgesamt, zuerst in Modena (von dort kommt bekanntlich der berühmte Aceto), anschliessend in Imperia (Ligurien) an der italienischen Riviera.
Schweiz – Italien – Schweiz
Ein Bekannter von ihm aus dem gleichen Dorf in der Provinz Venezia, der zu jener Zeit in Heiligenschwendi arbeitet, weiss um die Situation von Cirillo. Dieser Freund schlägt ihm vor, doch «auch in die Schweiz zu kommen». Im April 1954 zieht Cirillo also ins Oberland. «Ich war dort Burechnächt, im Hotel Bellevue Saali, habe – ohne offizielle Ausbildung – alles gemacht, was man von mir verlangte: Melken, Misten, Heuen, im Wald holzen, einfach alles», sagt er rückblickend, ohne Groll. Zwei Jahre später, 1956, bekommt er ein Arbeitsangebot vom Hotel Wildpark in Goldiwil. Cirillo möchte gerne gehen, in Heiligenschwendi jedoch will man den tüchtigen Mann nicht ziehen lassen.
Das heisst, es beginnt ein Kampf um die Arbeitsbewilligung. Es ist absurd, wie das damals funktionierte: Um sich vom bisherigen Arbeitgeber loslösen zu können, muss Cirillo Bullegato drei Monate ausser Landes. Danach muss er wieder einreisen, damit er die neue Stelle in Goldiwil antreten kann. So kommt es auch, nur werden aus den vorgesehenen drei Monaten deren neun, denn seine Abwesenheit fällt in die Winterzeit, in der das Hotel Waldpark noch nicht auf ihn angewiesen ist.
Ungefähr drei Jahre dauert seine Einbürgerung, die 1973 gefeiert werden kann.
«Ich war in meinem Leben genug auf den Strassen, ich bevorzuge die Maschinen.»
Von einem 2CV und einer Dienstfahrt
Am 1. Mai 1957 – Cirillo Bullegato hat sämtliche Daten präzise in Erinnerung – beginnt er in Goldiwil zu arbeiten. Er kümmert sich um alles zwischen dem Keller und dem Estrich, Tennisplatz inbegriffen. Im Waldhof bleibt er indes nur eine Sommersaison, anschliessend wechselt Cirillo Bullegato nach Thun zur Metzgerei Wüthrich. Dort sucht man jemanden für den Kundendienst. Mit anderen Worten: Einen Ausläufer, der die bestellten Fleischwaren zu den Kunden fährt. Im Fall von Cirillo Bullegato mit dem Velo, da er noch keinen Führerschein besitzt. Diesen holt er aber bei Fahrlehrer Hans Leuenberger nach, so dass die Bestellungen künftig mit einem 2CV-Kastenwagen ausgefahren werden. In dieser Zeit – während einer seiner «Dienstfahrten» – lernt er in Oberhofen bei der Firma Frutiger eine gewisse Luciana kennen, die später seine Frau wird. Sie heiraten am 20. September 1969.
Zuvor ändert sich im Leben der beiden aber noch das eine oder andere. Sie ziehen zusammen an die Pestalozzi-Strasse in Thun in eine Wohnung im sogenannten Krenger-Haus. Ausserdem geht Cirillo Bullegato nach über drei Jahren bei der Metzgerei Wüthrich am 7. Juli 1961 als Taxi-Fahrer zu Adolf Briggen, wo er bis 1976 bleibt («Nach 15 Jahren Taxi hatte ich das Gefühl, dass nun genug sei – wer will schon zu einem älteren Mann ins Taxi steigen?»). Mit 45 Jahren wechselt er als Fahrer zur Chemischen Reinigung Oppliger Thun, wo pro Jahr 80 Tonnen Kleider gereinigt werden. Cirillo Bullegato ist auch hier Fahrer. Er fährt für die Clientèle bis nach Worb oder Münsingen, wohin er Kleider bringt oder abholt. Vier Jahre bleibt er dort. Ungefähr drei Jahre dauert seine Einbürgerung, die 1973 gefeiert werden kann. Als Neo-Schweizer engagiert sich Cirillo Bullegato subito beim Zivilschutz in Thun-Allmendingen, so wie es sich für einen Helvetier gehört.
Inzwischen sind die Bullegatos zu viert, jetzt an der Neumattstrasse. Elisabeth und Carlo heissen die Kinder von Luciana und Cirillo. «Mit der vierköpfigen Familie musste ich ein bisschen mehr verdienen», erinnert er sich, «weshalb ich 1980 bei der Munitionsfabrik Thun angeheuert habe.» Man fragte ihn, ober er lieber fahren oder in den Maschinenräumen arbeiten würde. Seine Antwort: «Nun, ich war in meinem Leben genug auf den Strassen, das reicht, ich bevorzuge die Maschinen.»
Der 11. Dezember 2017
Cirillo Bullegato bekommt 1992 die Möglichkeit, sich frühzeitig pensionieren zu lassen. Allerdings erfordert dies das Nachzahlen von Pensionskasse und AHV, welches er auch erledigt. All die Jahre wohnen Luciana und Cirillo Bullegato an der Neumattstrasse. Er ist aktives Mitglied beim Volkssportverband und erfreut sich an vielen Wanderungen.
In der Nacht vom 11. auf den 12. Dezember 2017 fühlt sich Cirillo Bullegato plötzlich unwohl. Er steht wohl zu schnell auf und bricht zusammen, so dass er mit der Ambulanz ins Spital Thun gebracht wird. Von dort aus wird er für weitergehende Untersuchungen direkt ins Inselspital gebracht, von wo aus er ins Tiefenauspital und zwei Wochen später nach Belp verlegt wird, wo er mit der Reha beginnt.
Fazit: Er hatte eine Streifung. Zu allem Unglück kommt, dass seine Frau, welche 1958 aus dem Veltlin in die Schweiz gekommen ist, ausgerechnet in dieser Zeit ebenfalls einen Unfall erleidet. Nachdem sie zu Hause zusammengebrochen ist, kommt sie für eine Woche auf die Intensivstation.
Es ist klar: Unter diesen Umständen können Luciana und Cirillo Bullegato nicht mehr in ihre Wohnung zurückkehren, so dass sie seit letztem Jahr im Hohmadpark wohnen – getrennt. Luciana wohnt im Süd-, Cirillo im Nordflügel. «Die Zimmer sind ziemlich klein, es wäre schön, etwas mehr Fläche zur Verfügung zu haben», sagt er, seine Frau nickt. Wer weiss, vielleicht bringt dieser Bericht eine Lösung.
Die Bullegatos sind vierfache Grosseltern. Elisabeth, die in Allmendingen wohnt, und Carlo, im Talacker zu Hause, besuchen ihre Eltern regelmässig. Die Enkel bereiten den Grosseltern grosse Freude.