Erwin Naef: Ein Song von Neil Diamond

Erwin Naef: Ein Song von Neil Diamond

Erwin Naef: Ein Song von Neil Diamond

Es ist immer wieder ein eindrückliches Erlebnis, mit Bewohnerinnen und Bewohnern von Wohnheimen zu sprechen, denn eines haben wir Menschen gemeinsam: Ein sehr gut funktionierendes Langzeitgedächtnis. So auch Erwin Naef in der Sonnmatt von WiA – Wohnen im Alter.

Text: Thomas Bornhauser  |  Fotos: zvg

 

Als er uns die Türe öffnet, sind wir… baff. Da steht also einer, der 91 ist, in Jeans, offenem Sporthemd und beneidenswerter Figur vor uns, bittet uns herein, als wäre er soeben nach einer Joggingrunde unter der Dusche gestanden. Und der erste Eindruck täuscht nicht: Erwin Naef hat keine Mühe mit dem Gespräch, muss nie eine Pause einlegen. Im Gegenteil: Offeriert werden selbergemachte (!) Bretzeli – absolut köstliche – und Kaffee. Wow.

 

Erwin Naef wird 1927 in Bremgarten/AG geboren, wo er auch die Primar- und die Bezirksschule besucht. In Europa tobt später der Zweite Weltkrieg. Für die Schweizer Familien heisst das auch: Lebensmittelkarten, etwas, das man sich heute bei den prall gefüllten Regalen in den Supermärkten überhaupt nicht mehr vorstellen kann. «Rationierung» ist das Schlagwort. Man bringt Knochen zu den Sammelstellen, auch Kaffeesatz, um daraus Öl herzustellen. Armut ist die Regel, nicht die Ausnahme. Erwin und seine drei Brüder lernen, was es heisst, sich einzuschränken. Frisches Brot durfte damals nicht verkauft werden, es musste mindestens einen Tag alt sein.

Man lernt sich kennen

 

Erwin Naef kann in Zürich eine Ausbildung als Möbelschreiner absolvieren. Nach der Lehre belegt er Abendkurse, vor allem Zeichnen interessiert ihn. Später lernt er, seine zehn Finger auf der Tastatur einer Schreibmaschine zu gebrauchen, beschäftigt sich mit Stenographie. Im Grunde genommen ist ihm jedoch sein erlernter Beruf wichtig: Er zieht nach Bern, besucht die Schreinerfachschule in der «Lädere» im Berner Lorrainequartier. Er besteht die Meisterprüfung, die auf dem Bürgenstock stattfindet. Danach geht es wiederum in Richtung Zürich, wo er in einem Ladenbaubetrieb arbeitet, im Laufe der Zeit alle Abläufe und Aufgaben kennenlernt. Stichwort «Kennenlernen»: Im Büro ist auch eine Lydia Steiner angestellt, die Erwin 1960 heiratet. Sohn Markus wird 1961 geboren, Tochter Barbara kommt 1963 zur Welt.

 

 

Zurück ins Unternehmen, wo sich Erwin und Lydia kennengelernt haben. Der Inhaber selber hat keine Nachkommen, Erwin Naef zeigt durchaus Interesse, weil der Laden «gut im Schuss» ist. «Ich hatte allerdings nicht vor, zehn Jahre zu warten, bis der Chef sich entscheiden konnte, schliesslich hatte ich auch eine Verantwortung meiner Familie gegenüber», sagt er mit einem Lachen, denn der Inhaber bleibt unentschlossen, um fast zehn Jahre später von einem Tag auf den anderen endlich festzustellen, dass er den Betrieb einstellen und die Gebäude an verschiedene Interessenten vermieten will. Nur hat Erwin Naef, wie bereits erwähnt, keine Lust ein Jahrzehnt zu warten, sodass er inzwischen längst einen Job bei den KW in Thun angenommen hat, den Konstruktionswerkstätten der Armee.

Trompete und Turtmanntal 

Die Arbeit in Thun befriedigt ihn sehr. «In Zürich fertigten wir die Stücke jeweils einzeln an, in Thun hingegen ging es um die Herstellung ganzer Serien, das war am Anfang Neuland für mich, aber sehr interessant.» Dabei ging es längst nicht mehr um Holz, denn Erwin Naef hat bereits verschiedene Weiterbildungskurse im Bereich der Kunststoffe hinter sich, die mehr und mehr Holz als Werkmaterial ersetzen, so zum Beispiel bei den Übersetzbooten des Militärs. Statt dem obligatorischen Landdienst absolvierte er übrigens seinerzeit Aktivdienst als JuHD (Jugend Hilfsdienst) auf verschiedenen Fliegerbeobachtungsposten: In Savièse/VS, in Braunwald/GL und in Furna im Prättigau. Dort musste jede Flugbewegung an die Zentrale gemeldet werden, und das 24/7. Die Armee hat aus einem anderen Grund noch eine Bedeutung für Erwin Naef. Auf seine Hobbies angesprochen, kommt spontan das Wort «Trompete». Das Spielen auf dem Instrument während seiner Jugend bringt ihn in die Stadtmusik Bremgarten, später zur Stadtmusik Thun. Die RS verbringt er ebenfalls spielend, bei den Bläsern, später ist er Mitglied des Bat- und des Rgt-Spiels. Hat er seiner Familie auch den Marsch geblasen? Er lacht: «Nenei, das han ig nid müesse, ig bi kei Patriarch gsi.» 

Und bei den Hobbies kommt auch das Turtmanntal im Wallis zur Sprache, wo Erwin Naef seinerzeit ein Chalet kaufte, das er inzwischen aber Sohn Markus überlassen hat. Immerhin: Jedes Jahr ist er noch oben anzutreffen, mal mit der Familie von Markus, mal mit jener von Barbara.

 

Hat er seiner Familie auch den Marsch geblasen? Er lacht: «Nenei, das han ig nid müesse, ig bi kei Patriarch gsi.»

Der Blitzeinschlag

 

Es passiert 1987. Oberhalb der Wohnung von Naefs an der Länggasse schlägt der Blitz ein, das Dachgeschoss brennt lichterloh. Wie durch ein Wunder kommt niemand zu Schaden, aber die Estrichabteile verbrennen und mit ihnen viele Souvenirs. Nach einem Spitalaufenthalt seiner Frau ziehen sie gemeinsam in die Sonnmatt, wo sie kurz darauf stirbt. Seit zehn Jahren wohnt Erwin Naef in der Sonnmatt, fühlt sich «sehr wohl», wie er sagt. Und das sieht man ihm auch an. Kein Wunder, wenn man weiss, dass er jeden Morgen mit Spazierstöcken «walkt» und regelmässig auf den Hometrainer geht. Bei der Verabschiedung kommt mir ein Song in den Sinn: «Forever in Blue Jeans». Fast könnte man meinen, Neil Diamond hätte das Lied für Erwin Naef geschrieben.

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