Ein zweites Leben

Ein zweites Leben

Keine Chance den Abfallbergen. Im Kampf gegen die Wegwerfgesellschaft bieten Roger Fleury und sein Team mit dem Repair Café einen Ort, an dem kaputte Gegenstände repariert statt entsorgt werden können.

Text: Alina Dubach | Bilder: Alina Dubach, zvg

Zwei Freunde wollen in Amsterdam einen Kaffee trinken, vielleicht etwas Kleines essen. Obwohl sich die Hauptstadt der Niederlande nicht gerade der Restaurant-Armut schuldig macht, müssen die beiden ein gutes Stück gehen, ehe sie ein «Repair Café» antreffen.

«Damals habe ich nur ‹Café› gelesen», schmunzelt Roger Fleury, der in einem Restaurant in Thun sitzt, während er diese Anekdote erzählt. Schon beim Tritt über die Türschwelle wusste er: «Hier sind wir nicht ganz richtig.» Ganz falsch auch nicht. Denn der Jurassier – und heute Wahl-Thuner – war «begeistert». Bei der Erinnerung ist dem 81-Jährigen auch nach Jahren die Freude anzusehen: «Alle hatten irgendein zerlegtes Gerät vor sich, schraubten und werkelten daran herum. Die Stimmung war fröhlich und einladend familiär.»

Er habe dann gesehen, wie jemand eine Schraube nicht richtig lösen konnte und automatisch geholfen. Als Elektroingenieur wusste Fleury schliesslich genau, wie das Gerät in seine Einzelteile zu zerlegen und – fast wichtiger – wieder zusammenzubauen war. Mit seiner Hilfestellung zog er die Aufmerksamkeit des Organisators auf sich und kam ins Gespräch.

Zu dem Kaffee, den Fleury eigentlich mit seinem Freund trinken wollte, haben die beiden es nie geschafft. Dafür zeichnete sich ein neuer Lebensabschnitt ab. Kaum zu Hause begann er, die Reparierkultur der Schweiz zu polieren. «Zwar gab es schon vorher vereinzelt eine ‹Reparier-Bar› oder etwas in der Richtung, aber nichts Organisiertes oder Vernetztes», erinnert sich Fleury. Ohne Team und Raum gestaltete sich das Vorhaben zunächst schwierig.

So begann der technikaffine Fleury eben am anderen Ende des Projektplans und erstellte eine Website. Manchmal weckt schliesslich das Angebot auch die Nachfrage. Hier kam sie von unerwarteter Seite: «Anfang 2014 hatte ich plötzlich den Konsumentenschutz am Telefon», erinnert sich Fleury. Wieso er einen Online-Auftritt habe, wenn er doch gar nichts repariere. So überlieferte der Reparierpionier die Idee aus den Niederlanden in die Schweiz und fand in den Büros des Konsumentenschutzes kräftige Hilfe.

Nach dem ersten Repair Café in Bern schlugen die Reparierfreudigen ihre Zelte bald in Thun auf. Seitens der Politik erfuhr Fleury schon damals, bevor das Thema Reparatur in den Medien gross wurde, viel Unterstützung: «Ich traf mich mit dem Thuner Stapi und lief nach 15 Minuten mit der Zusicherung für Unterstützung wieder raus. Das war unvergleichlich unkompliziert.»

Seither findet das Repair Café im Rathaus Thun statt. Die Nutzung ist kostenlos, für Kund:innen, die auf eine Reparatur warten, darf sogar die Kaffeemaschine in Gebrauch genommen werden. Für den gemütlichen Moment im Kaffistübli hat nur Zeit, wer keine lange Reise hinter sich hat. «Regional sein reicht nicht, es muss lokale Angebote geben», erklärt der Flick-Pionier. Der Weg muss kurz sein. Von zu Hause aus und vom Auto zum Repair Café. Manchmal schleppen die Leute schwere Sachen ihrer letzten Chance entgegen. «Vom Wecker bis zur grossen Küchenmaschine haben wir schon alles gesehen», bestätigt Fleury. Meist schafft das Reparierteam das kleine Wunder – die Erfolgsquote liege bei etwa 80 Prozent, so Fleury.

Neben Mixern, Toastern und CD-Playern sind Kaffeemaschinen die Spitzenreiter unter den reparierbedürftigen Haushaltsgegenständen. Oft sind die «Krankheiten», die nach der Lebensdauer trachten, mit elektronischen Komponenten verbunden. Die sind – nebst verklemmten Zahnrädchen – der häufigste Grund für die Einlieferung.

Entsprechende Ausbildungen bringt das Team um Roger Fleury mit. «Aktuell sind wir genug Elektriker:innen», so der Repair-Café-Erfinder. Es fehle dagegen an Schneider:innen. Obwohl kleine Änderungen wie Hosenbeine kürzen oder Reissverschlüsse ersetzen durchgeführt werden, gibt es doch zahlreiche Löcher in den Thuner-Stoffen zu stopfen und zu wenige, die den Rissen mit Nadel und Faden zu Leibe rücken können und wollen. «Freiwillige können sich jederzeit bei uns melden», hält Fleury fest.

Etwa 22 Leute arbeiten regelmässig in Thun mit. Natürlich sind nicht alle bei jedem Repair Café im Einsatz. Jeweils sechs bis zehn Reparierer:innen im Alter zwischen 35 und 81 schrauben und flicken gegen die Abfallberge an, die sich in den Schweizer Entsorgungshöfen türmen.

«Im Abfallsammelhof Thun sind es pro Jahr etwa 800 Tonnen», bestätigt Rachel Neuenschwander das düstere Bild. Sie ist die Leiterin Abfallwirtschaft des Tiefbauamts Thun – oder kurz «Abfall-Beraterin». Und das seit 15 Jahren. Somit kennt sie auch Roger Fleury und seine Repair Cafés schon lange. «Wir verweisen immer wieder auf das Repair Café, wenn jemand etwas eigentlich nicht wegwerfen will.» Die zweite Anlaufstelle für Leute, die dem Wegwerfen nicht gedankenlos frönen wollen, ist «pretty good». Ein Projekt, das Gegenstände, die noch schön sind und funktionieren, in einen zweiten Kreislauf weiterleitet. Das Team des Entsorgungshofs Thun ist auf das Erkennen solcher Gegenstände sensibilisiert und setzt viel daran, dass nur im Müll landet, was dort auch wirklich hingehört.

So geht es auch Roger Fleury, der mit seiner Idee schon tausenden Gegenständen eine zweite Chance verschaffte. Wenn er das Restaurant verlässt, blickt er auf das Rathaus, wo schon am 22. März die nächste Gelegenheit zur Reparatur von kaputten Stücken wartet. Alle Termine finden Sie auf repair-cafe.ch.