Mit Treicheln und viel Lärm das alte Jahr vertreiben

Mit Treicheln und viel Lärm das alte Jahr vertreiben

Die Zeit der Wintersonnenwende um und vor allem nach dem 21. Dezember ist reich an traditionellem Brauchtum. Insbesondere im Berggebiet bestehen zahlreiche lokale Bräuche, welche wohl weit in die heidnische Zeit hineinreichen. Wir werfen den Blick auf das «Zweitjenner»-Brauchtum in Sigriswil.

Die Silvesterkläuse in Urnäsch (Appenzell Ausserrhoden) sind die vermutlichbekanntesten Figuren im Schweizer Neujahrsbrauchtum. Doch es gibt noch viele weitere, teils nur lokal oder regional bekannte Neujahrsbräuche. Den «Zweitjenner» gibt es in seiner Art nur in der Gemeinde Sigriswil am Thunersee. Zwar gilt der 2. Januar (Berchtoldstag, «Bärzelistag») in vielen Gebieten als Feiertag, und in der Art, wie er gefeiert wird, gibt es Gemeinsamkeiten. Dazu gehören Neujahrs-, Winter- und Fastnachtstraditionen, wie etwa Glocken- und Maskenumzüge oder «Neujahrsblätter». Doch viele Eigenheiten machen den Zweitjenner in den Sigriswiler Dörfern einzigartig. Und für jede und jeden hat das «Nöijahre» auch seine ganz eigene Bedeutung. Ist es für die Junggesellen die Gelegenheit, ledige Frauen im Dorf kennenzulernen, ist der Zweitjenner für andere der Moment, schlechte Geister zu vertreiben, zum «ga ichehre», oder anderen «äs guets Nöis dir emu o» zu wünschen.

Uralte Wurzeln
Die Art, wie in der Gemeinde Sigriswil das alte Jahr beendet und das neue begonnen wird, inklusive Zweitjenner, hat Wurzeln, die auf vorchristliche Zeiten zurückgehen. Entsprechend sah die katholische wie auch die reformierte Kirche das lebensfrohe «heidnische» Treiben höchst ungern. So wurde es in Aufzeichnungen auch kaum erwähnt. Doch gemäss mündlichen Überlieferungen haben sich die uralten Bräuche im Lauf der Zeit kaum gewandelt. Einige historische Hinweise finden sich bei genauem Hinschauen doch auch noch: So ist dem Sigriswiler Chorgerichtsmanual zu entnehmen, dass im Jahr 1720 «Ulrich Graber vor Chorgericht zitiert wird, weil er am Neujahrsabend durch die ganze Nacht Wein ausgegeben». 1724 «sind wegen des heidnischen Neüjahrens vor Chorgericht erschienen Hans Büeler und Ulrich Surer und noch andere. Ist jeder von diesen Knaben um 10 Batzen gestraft worden.» Und: «Wegen Neujahr-Kilt* werden 1734 und 1735 etliche Junge verklagt». 1804 lesen wir: Beim «bevorstehenden Jahrwächsel wurde den Vorgesetzten aufgetragen, gut Aufsicht zu halten, dass die Neujahrslustbarkeiten von der Jugend nicht übertrieben werden.»

Der Chronist Karl Howald, 1833 bis 1869 Pfarrer in Sigriswil, schreibt schliesslich 1842: «Der Neujahrstag ging gut vorüber, ohne Gezänk und Schlägereyen. Die jungen ledigen Burschen hatten einen Umzug veranstaltet. Zuerst kamen Musikanten mit Clarinett und Schalmeyen, auch mit einer Trommel statt der Pauke. Dann einer hoch zu Ross, mit ungeheurem Dreyeckhut, hierauf verkleidete Tänzer und Tänzerinnen, städtische und bäurische, auch ein Bär, Hanswurst, Mieschmann und Doktor. Auch eine Frau mit einem grossen Kropf, die das Spinnrad auf dem Rücken trug. In der Wirtshausmatte tanzten sie, unterdessen sass die Frau am Spinnrad und spann den Faden aus ihrem Kropf heraus um den Spuhlen. Der ganze Zug defilierte von dem Wirtshaus her vor dem Pfarrhaus vorüber und wieder ins Dorf zurück.»

Die Neujahrsgesellschaften
Acht Dörfer von Sigriswil haben eine Neujahrsgesellschaft: Aeschlen, Endorf, Gunten, Merligen, Schwanden, Sigriswil, Tschingel und Wiler. Als «Auftakt für die fünfte Jahreszeit» schliessen sich jeweils anfangs Dezember die jungen, ledigen Männer dorfweise zu den Neujahrsgesellschaften zusammen. Dies geschieht an den «Neujahrsversammlungen», an welchen die Gesellschaften den jeweiligen Präsidenten wählen und über die wichtigsten organisatorischen Belange beschliessen. Zum «Gloggne» ziehen sie in der Silvesternacht mit Treicheln und Glocken durchs Dorf, läuten das alte Jahr aus und das neue Jahr ein. Wer heiratet, scheidet automatisch aus der Neujahrsgesellschaft, die sich jedes Jahr neu bildet, aus. Drei der elf Sigriswiler Dörfer haben keine Neujahrsgesellschaften: Ringoldswil, Meiersmaad und Reust.

Zusammenarbeit und Konkurrenz
Früher bestanden teils erhebliche Rivalitäten unter den Sigriswiler Dörfern. Dies zeigte und zeigt sich auch bei den Neujahrsgesellschaften. So kam und kommt es, etwa wenn reichlich Alkohol fliesst, auch mal zu einer Rauferei, zur Entwendung von Umzugsmaterial oder zur Fällung des Neujahrsbaums eines anderen Dorfes. Gleichzeitig spannen einerseits Schwanden, Tschingel und Aeschlen, andererseits Sigriswil, Endorf und Wiler in gewissen Bereichen, etwa dem Umzug, auch zusammen. Gunten (das als einziges der acht Dörfer statt der Neujahrsgesellschaft seit 1964 eine Neujahrszunft kennt) und Merligen gehen derweil weitgehend eigene Wege. Während sich einige Ringoldswiler zum Neujahren Tschingel oder Aeschlen anschliessen, begeben sich die Festhungrigen aus Meiersmaad und Reust nach Schwanden.

Das «Schwarznen»
Ledige Frauen und Männer wollen sich kennenlernen! Die Chance dazu bietet das «Schwarznen» in der Altjahreswoche. Dann laden die ledigen Frauen des Dorfes die ledigen Männer zu Speis (Züpfe, Gebäck und anderes) und Trank. «Schwarznen» bezieht sich auf den oft mit Schnaps genossenen schwarzen Kaffee und aufs Dunkel der nicht selten bis zum Tagesanbruch durchwachten langen Nächte. «Fremdschwarznen», also der Besuch lediger Damen anderer Dörfer, ist übrigens bis heute ungern gesehen!

Silvester und Neujahr 
An Silvester und Neujahr werden als Glücksbringer in diversen Dörfern geschmückte Neujahrstannen gestellt. Zudem ziehen in der Silvesternacht die Neujahrsgesellschaften
durch die Dörfer zum «Gloggne»: Mit Treicheln und Glocken läuten sie das alte Jahr aus und das neue Jahr ein. Am Neujahrsabend steigt ein grosses Fest mit urchiger bis kerniger Livemusik. «Geläutet», wie man das «Gloggne» auch nennt, wird abgesehen von Silvester und Neujahr übrigens auch anlässlich von Hochzeiten, als Form des Glückwunsches an die Frischvermählten.

Der Zweitjenner
Aufwachen! Los geht’s! Vor Tagesanbruch beginnt der Zweitjenner mit dem «Riesechnutsch» eines Böllers. Während die verkleideten Neujahrsgesellschaften nun mit Lärminstrumenten von Haus zu Haus ziehen, um mit Speis und teils hochprozentiger Tranksame bewirtet zu werden, zünden sie weitere «Töndere». Wo man auch hinkommt, wünschen sich alle ein gutes Neujahr. Mit Spannung werden die «Neujahrsblettli» aus Aeschlen, Schwanden und Sigriswil gelesen, die den Dorfklatsch schnitzelbankähnlich wiedergeben. Abends finden sich die Neujahrsgesellschaften in Sigriswil, Schwanden, Merligen oder Gunten wieder zum Feiern zusammen.


«Oh, diese lästigen Autogrammjäger!»