Das Paradies am Thunersee

Das Paradies am Thunersee

Das Paradies am Thunersee

Im Berner Oberland, wo die beiden blauen Augen der Alpen gegen den leicht bewölkten Himmel schauen, liegt das Paradies. 

Text: Arthur Maibach  |  Fotos: Arthur Maibach, David Szalatnay, zvg

Dazwischen ist das Bödeli, welches mit dem Namen Interlaken als Kurort weltweit bekannt ist. Diese Augen sind so schön, dass ein kleiner Fleck am unteren Rand des linken Auges «zum Paradies» genannt wurde. Was muss das wohl für eine unbeschreiblich schöne Landschaft gewesen sein, dass dieser Ort einen biblischen Namen erhielt. Im Jahr 1446 schrieb der Pfarrherr von Einigen und Verfasser der Strättliger Chronik, Elogius Kiburger: «…der hochwürdig Sankt Michael war der Patron und Schirmer der Kirche des Paradies…» und «…als Kilchherr der Kirche des Paradies Sankt Michael»… Ob nun dieser Ort den Namen Paradies schon vor dem Bau der über tausendjährigen Kirche hatte, wird mit grosser Wahrscheinlichkeit nie bezeugt werden können. Auch ist es nicht von Wichtigkeit, wer wann diesem Stück traumhafter Erde das Wort Paradies zuordnete. Freuen wir uns doch ganz einfach, dass am Thunersee ein kleines Örtchen die alttestamentliche Bezeichnung «Zum Paradies» trägt.


Paradies

Was ist nun aber ein oder das Paradies? Paradies ist ein Lehnwort aus dem altpersischen parideza, das eine Umwallung, das Umwallte, den Park oder den Garten bezeichnet. In dieser Bedeutung ging Paradies in das hebräische pardes, aramäische pardesa griechisch paradeisos und auch das lateinische paradisus ein. Als die griechische Übersetzung des Alten Testaments das hebräische «Gottesgarten» der Schöpfungsgeschichte in 1. Moses 2 mit paradiesos bezeichnete, wurde Paradies im griechischen Judentum zum religiösen Begriff. Das Wort Garten, Garten Eden und Gottesgarten ist die Schöpfung selber. Seine Fruchtbarkeit ist unbeschreiblich, ebenso sein Reichtum an Gewächsen und Tieren.

Wenn ich mir nun alle Häuser, die Kirche und die von Menschenhand erschafften Bauten wegdenke, sehe ich einen umwallten Garten mit Büschen, Bäumen und einer farbigen Blumenpracht, der am Blauen Wendelsee eingebettet lieget. Ein Bächlein hüpfte durch das liebliche Land und vereinte sich mit den Wellen des Bergsees. Tiere fanden Nahrung, konnten ihre Jungen erziehen und Schmetterlinge in allen möglichen Farben liessen die reine Luft vibrieren. 

Wie schön muss wohl diese Gegend gewesen sein, dass ein Mensch diesem Ort die Bezeichnung Paradies gab. Wie schön ist dieser Ort auch heute noch, wird er doch noch immer «zum Paradies» genannt.


Die Kirche im Paradies

Von Thun herkommend, verlasse ich die Hauptstrasse und gehe die zum See führende Dorfstrasse hinunter, wo Blumen und fantasievoll geschmückte Häuser jeden Schritt mit Freude erfüllen. In Gedanken versunken ob all der Schönheit komme ich beim alten Schulhaus vorbei und bleibe stehen. Der Zahnstocherturm der alten Kirche lässt mich nicht mehr weitergehen. Der mit Schindeln bedeckte Turm der im frühromanischen Stil gebauten Kirche, der Kirchhof und im Hintergrund der blaue See erfüllen mein Herz mit Freude und einer innern Ruhe.

Dieser wunderschöne Platz wurde auserwählt, um beim «Jucki-Brünnlein» eine dem Heiligen Sankt Michael geweihte Kirche zu erbauen. Schon bald wurde Einigen zum Wallfahrtsort, wo Kranke und Krüppel zur Kirche pilgerten, um beim St.-Michaels- Brunnen Heilung zu suchen.

Viele Brautpaare geben sich in diesem schlichten Raum das Jawort, Kinder werden getauft, um ihnen den Segen fürs Leben zu geben, und Tränen werden getrocknet beim Abschied, wenn geliebte Menschen in der feuchten Erde ihre letzte Ruhe finden. Um Mitternacht am Weihnachtsabend nach dem Gottesdienst stehen die Gläubigen mit einer Kerze in der Hand unter der Kirche auf dem Rondell und singen gemeinsam «Stille Nacht» in die Stille der Nacht, das nur vom ruhigen Wellenschlag des Wassers vom See begleitet wird. Wenn die Stimmen der Sänger auf der gegenüberliegenden Seite des Sees gehört werden könnten, würden die Bewohner von Oberhofen ein Lied aus dem Paradies hören.

Der schönste Punkt der Welt

«Wo denn? Am Thunersee, im Berner Oberland, sechshundert Meter über der menschlichen Eitelkeit, links, zwischen Spiez und Thun. Warum? Ja, weil es der schönste Punkt der Welt ist, ganz einfach.» Diese Worte finden wir im Buch «Geliebte Erde» von Hans Müller Einigen. Dem Schriftsteller, der Wien die schönste Stadt Europas nannte, der New York, Hollywood, London, Berlin, München, Paris, Rom und all die gigantischen Sehenswürdigkeiten der Welt sah, sich aber in Einigen niederliess. In Einigen war Hans Müller glücklich, er liebte diesen Ort so sehr, dass er seinem Namen ohne Komma oder Bindestrich den Dorfnamen «Einigen» anfügte. 

Das Wort schön zieht wie ein roter Faden durch Einigen. Nach der Schneeschmelze, wenn das saftige Grün der Wiesen wie ein zarter Teppich den See mit dem Rustwald verbindet, erstrahlt das Paradies in einem weissen Kleid. Bäume, die ihre Arme zum Himmel erheben, werden mit weissen Blüten geschmückt, Blüten, die sich zu hervorragenden, süssen, saftigen Kirschen verwandeln. Eine dieser Kirschsorten stammt aus der Thunersee-Region, genauer gesagt aus dem Dorf Einigen. Die «Schöne von Einigen», so der Name dieser Kirsche, wurde von Fructus, der Vereinigung zur Förderung alter Obstsorten, zur Obstsorte des Jahres 2010 gekürt. Mit grosser Wahrscheinlichkeit ist die Schöne von Einigen ein Zuchterfolg des Obstbaumzüchters und Grossrats Gottlieb Häsler. Noch heute pflegen Landwirte in Einigen ihre Kirschbäume, welche ihre Grossväter und Urgrossväter aus Wildkirschen aus dem Zinigwald veredelten.


Einigen

Ob mit der Eisenbahn oder mit dem Auto, Einigen wird meist mit relativ hoher Geschwindigkeit durchfahren und von der Schönheit kann absolut nichts mitgenommen werden. Das Paradies am Thunersee möchte aber jedem etwas mitgeben, und das kann er nur bekommen, wenn er zu Fuss und langsam auf Erkundungstour geht. Sei es der Blick von der Kanderbrücke in die vor 300 Jahren erbaute Kanderschlucht, zur Ableitung der Kander in den Thunersee, die Höhestrasse mit der traumhaften Sicht über das Dorf, den Thunersee und die gegenüberliegende Seeseite. Die naturbelassenen Matten, Hecken und Sträucher und die von Menschenhand erbauten Häuser, Strassen und Wege. Wie eine ruhige, grüne Oase liegt das Dorf inmitten von Lärm und hektischem Treiben und möchte zu Besinnung aufrufen.

Möge es gelingen, dass Einigen, das Paradies am Thunersee, seine Schönheit nicht verliert, seine Lieblichkeit nicht zerstört wird und seinen Namen noch lange mit Würde tragen kann. Dass noch viele Menschen, von wo sie auch immer herkommen, die Einzigartigkeit, die Ruhe und die gesunde Luft geniessen können.