Sagenwelten am Wendelsee
Sagenwelten am Wendelsee
Malerisch eingebettet in einen Kranz aus smaragdgrünen Hügeln und firnglänzenden Gebirgsstöcken, mutet der Thunersee selbst wie ein magisches Landschaftsjuwel in einem sagenumwobenen Königreich an. Alte Chroniken nennen das tiefblaue Gewässer an der Pforte zum Alpenland geheimnisvoll den Wendelsee. Es verwundert kaum, dass aus dem Erleben unserer Vorfahren, welche diese Landschaft seit Jahrtausenden bewohnten, ein bunter Strauss von Sagen erwachsen ist, der bis in unsere heutige Zeit fortblüht.
Text & Fotos: Andreas Sommer
So können wir uns also freuen – bald ist das «Spiezerli» wieder auf dem Thunersee unterwegs. Auf der Website www.spiezerli.ch können Sie sich über den Zeitplan informieren und zusätzliche spannende Informationen zum Dampfer nachlesen. Ausserdem besteht auch immer noch die Möglichkeit, sich durch eine Spende am Projekt zu beteiligen – jeder Franken kann gebraucht werden. Es steht der Thunerseeregion sicherlich gut zu Gesicht, dass ein solches Stück Schifffahrts- und auch Tourismusgeschichte gepflegt wird und nicht finanziellen Überlegungen geopfert wurde. Gute Fahrt!
Flackernd erstirbt das letzte Kerzenflämmchen. Undurchdringliche Dunkelheit umfängt mich. Aus der Tiefe dringt nur mehr das Rauschen des Wassers an mein Gehör, das die Höhlenwände vibrieren lässt. Es riecht nach feuchtem Fels. Subtile Lichtimpulse auf meiner Netzhaut sind die letzten optischen Wahrnehmungen, ansonsten bin ich nun anderen, weniger gewohnten Sinnesreizen überlassen. Umso mehr regen sich innere Bilder in mir. Die geheimnisvolle Sagenwelt des Berges erwacht zu magischem Leben, wenn die äusseren Bildeindrücke schwinden. Der gewaltige Drache aus der lokalen Legende, der in grauer Vorzeit unermessliche Schätze in den tiefen Klüften dieser Gebirge gehütet haben soll, nimmt unwillkürlich Gestalt an vor meinem inneren Auge. Genährt durch meine Vorstellungskraft erahne ich funkelnde Zwergenhallen und kristallene Grotten tief unter der wohlvertrauten Erdoberfläche. Wie es wohl meinen Begleitern ergeht in dieser surrealen Dunkelheit? Ob sie den inneren Bilderbogen auch in sich aufsteigen fühlen?
Eine Sagenreise in den Drachenberg
Wir befinden uns tief im Innern der St. Beatus-Höhlen am Thunersee. Tagsüber wandeln hier Touristen aus aller Herren Ländern durch die beleuchteten Gänge dieser grössten ausgebauten Schauhöhle des Berner Oberlandes. Am Abend, wenn der Besucherstrom verebbt und das elektrische Licht erlischt, kehren die schaurig ehrfurchtgebietenden Stimmungen der Drachenhöhle aus der alten Sage wieder ein in dieses Reich der klickernden Tropfsteine und stillen Höhlenseen. Im schummrigen Licht von Kerzenlaternen bin ich mit einer Gruppe von Besuchern gemächlich und schweigend in die ungewohnte Wirklichkeit unter dem Berg hineingewandert. Unterwegs habe ich in gedämpftem Tonfall altüberlieferte Geschichten aus der heimischen Sagentradition heraufbeschworen. Da war die Rede von Druiden und Drachen, von Feenmächten und verborgenen Zwergenschätzen, von gewitzten Hirten und abenteuerseligen Rittern. In der mystischen Atmosphäre der Höhlenwelt entfalten die archaischen Seelenbilder dieser Geschichten unwillkürlich ihr eigenes Leben. Im unmittelbaren Naturerlebnis und der individuellen Vorstellungskraft verweben sich die vernommenen Worte zu persönlichen inneren Geschichtenreisen, die jeder Lauschende auf seine ureigene Weise durchlebt.Vom magischen Weltbild unserer Vorfahren
Vor ungezählten Menschenaltern erfuhren unsere Altvorderen am Wendelsee die Kräfte der Natur und die Erscheinungen der Landschaft als ein Spiel unfassbarer Mächte, in welches ihre menschliche Existenz auf Gedeih und Verderb eingebunden war. In ihrer magischen Lebensschau verliehen die Menschen der Vorzeit diesen Phänomenen Wesenhaftigkeit und schufen über Generationen hinweg bildhafte Vorstellungen, mit denen sie im Wandel der Jahreszeiten kommunizierten. Erdmännchen und Wildweiblein, Feen und Schratten, Stollenwürmer und unberechenbare Berggeister wie das Hauri und das Hardermannli repräsentierten die Launen der Natur in der Alltagsrealität dieser frühen Alpenbewohner. Die Qualitäten der Landschaft und ihrer vielgestaltigen Manifestationen wurden als bildhafte Geschichten geschaut und tradiert.
Die Landstriche um den Wendelsee haben bis heute nichts von ihrer Schönheit eingebüsst. Zahlreiche Örtlichkeiten, die bereits in unseren Vorfahren erschauernde Ehrfurcht wachriefen, bewegen noch heute Einheimische und Gäste aus der ganzen Welt. Ein solcher Schauplatz uralter Mysterien sind die St. Beatus-Höhlen. Einst als Heiligtum numinoser Naturkräfte in hohen Ehren gehalten, wandelte sich die Lokalität im Zuge der Christianisierung zu einem Wallfahrtsort, wo dem Angedenken an den wunderwirkenden Alpenapostel Beatus gehuldigt wurde. Im Mittelalter spann sich der Wendelsee-Mythos ungehindert fort und wir hören da von kühnen Rittergeschlechtern am Goldenen Hof zu Spiez und von versunkenen Heidenstädten, von begnadeten Minnesängern und der legendären Königin Berta von Hochburgund, die rund um den See einem Weistraum zufolge zwölf Kirchen gestiftet haben soll.
Rückverbindung mit den Wurzeln
Nach einer zeitlosen Ewigkeit flammen die ersten Kerzenlichter in der Dunkelheit der Höhle wieder auf. Gleichsam verzaubert leuchten die Augen meiner Begleiter in ihrem Widerschein. Tief in der Unterwelt des Drachenberges bewegt mich dasselbe Anliegen wie auf allen meinen Sagenwanderungen: Ich möchte meinen Gästen den Zugang zu einem magischen Erleben der Landschaft eröffnen. Und dadurch einen Bogen schlagen zurück zu den Wurzeln des Landes und der Seele. Nicht zuletzt wünsche ich mir, ein Scherflein dazu beitragen zu können, dass unsere vielfach nüchterne und abgeklärte Realität des 21. Jahrhunderts wieder vermehrt ein Ort des Zaubers und des Wunders werden darf. Sagenwanderungen erschliessen Tore zu einer ungewohnten und sehr persönlichen Wahrnehmung der Natur vor unserer Haustür. Die Faszination unserer sagenhaften Landschaft wirkt zeitlos. In urferner Vergangenheit genauso wie heute.
Andreas Sommer
lebt mit seiner Familie in Oberhofen am Thunersee.
Er arbeitet für die Beatushöhlen-Genossenschaft als Tour Guide. Freiberuflich ist er als Sagenwanderer und Buchautor tätig und entführt seine Gäste in den St. Beatus-Höhlen, rund um den Thunersee und im Naturpark Gantrisch in die einheimische Anderswelt. Regelmässig erzählt er hiesige Sagen, Märchen und Mythen im Schloss Oberhofen, im Heidenhaus in Einigen
und anderswo in der Region.
www.animahelvetia.ch
Die St.Beatus-Höhlen sind
der Öffentlichkeit auch tags-
über zwischen Ende März
und Ende Oktober zugänglich.
www.beatushoehlen.ch