Ein Leben im Alter: «Zum Glück habe ich nie mit dem Schicksal gehadert.»

Ein Leben im Alter: «Zum Glück habe ich nie mit dem Schicksal gehadert.»

Ein Leben im Alter: «Zum Glück habe ich nie mit dem Schicksal gehadert.»

Grund genug, mit dem Schicksal in Unfrieden zu leben, das hätte Hedwig Suter nämlich gehabt. Nicht nur einmal. Sie aber ist eine Kämpferin, auch heute noch, obwohl sie letztes Jahr bereits 90 Jahre alt geworden ist. Lesen Sie über das Leben dieser ungewöhnlichen Frau.

Text: Thomas Bornhauser  |  Fotos: Thomas Bornhauser, zvg

Hedwig Fischer wird am 18. Mai 1928 in Schöftland geboren, als jüngstes Kind von insgesamt fünf Buben und fünf Mädchen. Ihre Mutter wird sie nie richtig kennenlernen, weil diese stirbt, als Hedwig drei Jahre alt ist. Diese fehlende Mutterliebe vermisst sie bis heute. Mit ihren Geschwistern kann sie nicht mehr über ihre Kindheit reden, alle sind bereits verstorben.

 

Die Familie hält zusammen

 

Man stelle sich das vor: Der Vater allein mit zehn Kindern. Und ob das nicht Schicksal genug wäre, geht er keiner normalen Arbeit nach: Er ist während 42 Jahren Nachtwächter bei den Bally Schuhfabriken in Schöftland. Mit anderen Worten: Nachts ist er nicht da, tagsüber schläft er einige Stunden, um sich dann um die Familie zu kümmern. «Er war ein feiner und lieber Vater», erinnert sich meine Gesprächspartnerin. Ganz klar: Der Vater schafft das alles nicht allein, die Geschwister müssen mit anpacken. Das ist auch der Grund, dass Hedwig keine eigentliche Ausbildung absolvieren kann, sondern nach ihrer Schulzeit mithelfen muss, die Familie durchzubringen. Ihre Arbeit führt sie in eine kleine Zigarrenfabrik in Kölliken, wo sie die Zigarren rollt. Später wechselt sie zu Ringier in Zofingen, wo sie in der Spedition beschäftigt ist.

 

 

Der Friedhof als Symbol 

 

Hedwig Fischer – wie sie damals noch heisst – wohnt als Zimmer-Untermieterin in Kölliken. Eines Tages – im März 1955 – besucht sie ihre Mutter auf dem Friedhof. Hedwig ­Fischer kommt mit einem Mann ins Gespräch, der nach dem Grab seines Vaters schaut. Es ist Friedrich Suter, der in Kölliken allein in einem alten Haus ohne Heizung wohnt. Die Wohnungsvermieterin von Hedwig Suter findet es keine gute Idee, dass ­Friedrich weiterhin allein «in dieser alten Hütte» wohnt, vermutlich eine versteckte Aufforderung, ihn zu ­heiraten und aus dem Haus zu bringen. Bereits im September heiraten ­Hedwig und Friedrich. Sein Elternhaus verkauft Friedrich, das Ehepaar Suter-­Fischer mietet sich eine Wohnung in Kölliken.

 

Friedrich Suter teilt das Schicksal mit vielen Leuten der damaligen Zeit: Auch er kann keine Ausbildung als Zimmermann in Angriff nehmen, weshalb er Hilfsarbeiter auf dem Bau wird. Sein Lohn reicht für keine grossen Sprünge, erst recht nicht, als drei Kinder da sind: Ursula, Rosmarie und Andreas. «Wir waren immer genügsam, nie auf andere neidisch, die sich das eine oder andere leisten konnten. Unseren Kindern haben wir diese Einstellung mit auf ihren Lebensweg ge­geben», sagt Hedwig Suter. Und noch etwas anderes haben Ursula, Rosmarie und Andreas auf den Weg bekommen, nämlich ein intaktes Familienleben, bei welchem es ausreichte, wenn man zusammen in der Natur spazieren gehen konnte.

 

Eine bewundernswerte Frau

 

Hedwig Suter erzählt von eigenen gesundheitlichen Problem im Laufe dieser Zeit, «aber ich will nicht, dass Sie gross darüber schreiben.» Es passt zu meinem Bild, das ich von dieser Frau habe: Sie selber nimmt sich immer zurück, es geht ihr darum, anderen zu helfen. Plötzlich kommt mir ein Zitat aus Schillers «Wilhelm Tell» in den Sinn, passend zu Hedwig Suter: «Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt.» Wenn wir an die heutige Zeit denken, lässt sich der Satz durchaus anpassen: «Der brave Mann denkt an sich. Selbst zuletzt.»

 

Hilfe benötigt ihr Mann, denn ein Rückenmarkkrebs wird zu spät entdeckt, er lässt sich weder medizinisch noch chirurgisch behandeln. Der Arzt spricht von «ein, zwei Jahren», die Friedrich noch zu leben hat, im Rollstuhl, weil die Funktion seiner Beine nach und nach versagt. Der Mediziner sollte sich täuschen, Friedrich Suter wird noch viele Jahre leben, zuerst lange von Hedwig zu Hause betreut, als es gar nicht mehr geht, im Alters- und Pflegeheim Lindenfeld in Aarau. Die IV übernimmt einen Teil der Krankheitskosten, aber es ist zu wenig zum Leben, sodass Hedwig Suter sich mit 48 Jahren wieder eine Arbeit suchen muss, weil sie gemäss IV «noch jung genug ist.» Während acht Jahren hilft sie in der Küche des Altersheims Oberentfelden, kümmert sich um die Kinder, besser gesagt, um ihre drei Jugend­lichen, und besucht so oft als möglich ­Friedrich. Die Zeit reicht nicht auch noch, um für sich selber zu schauen. «Ich hatte im Altersheim Oberentfelden einen sehr guten ­Küchenchef, einen verständnisvollen, der mir – wann immer möglich – die Gelegenheit gab, Friedrich zu besuchen, ich bin ihm noch heute dafür dankbar.»

 

1983

 

«Je besser ich das Schicksal annehmen kann, umso besser geht es mir.» Mit dieser Einstellung geht sie durchs Leben, immer im Dienst ihrer Familie. 1983 aber wird ihr Schicksalsjahr: Im Januar und im September sterben zwei ihrer Schwestern, im Oktober schliesslich Friedrich. Das alles ist zuviel für sie, sie fällt in eine Depression, mit der ihr Arzt sogar gerechnet hat: «Frau Suter, es ist übermenschlich, was Sie in den letzten Jahren geleistet haben, jetzt streikt ihr Körper und Ihr Geist.» Was nun?

 

«Mit meinem Neffen Peter Buchser, der damals in Thun – heute in Goldiwil – wohnte, hatte ich immer ein ausgezeichnetes Verhältnis. Er meinte, ich solle doch nach Thun zügeln. Eine gute Idee, nicht zuletzt deshalb, weil Rosmarie in Hilterfingen wohnt, also ganz in der Nähe.» Es passt zu dieser Frau, dass sie ihr Leben neu ausrichtet. Von nun an wohnt Hedwig Suter im Buchholz, während 22 Jahren in einer 3-Zimmer-Wohnung, damit die Kinder sie besuchen und übernachten können. Sie hilft während sieben Jahren mit, das Schulhaus zu putzen, weil es sonst Ende Monat finanziell knapp würde.

 

«Je besser ich das Schicksal annehmen kann, umso besser geht es mir.» 

Tod von Andreas 

Vor allem aber: Sie engagiert sich während 22 Jahren bei Pfarrer Dähler in der Markuskirche, wo sie in einer Gruppe von Menschen mitmacht, die ihrerseits einsame Leute besucht, einmal die Woche. «Und wenn jemand starb, so gab es immer die Möglichkeit, jemanden kennenzulernen», sagt sie, wobei zum ersten Mal bei unserem Gespräch ein Lächeln über ihre Lippen huscht. «Zudem hatte ich immer einen guten Zugang zu älteren Menschen, auf meine fehlende Mutterliebe zurückzuführen.»

Von 2006 an plagen Hedwig Suter Atemprobleme, die verunmöglichen, dass sie ihrer Arbeit im Schulhaus nachgehen kann. Sie wohnt zu jener Zeit im zweiten Stock, ihr Arzt empfiehlt ihr, nach einer Wohnung im Parterre zu suchen – was sie auch tut, und findet, am Eggenweg. Sie ist mittler weile 78 Jahre alt und wohnt dann zwölf Jahre dort. Ihre Gesundheit verschlechtert sich im Laufe der Zeit, worauf Hedwig Suter nach einem Platz in der Sonnmatt sucht, wo zu jener Zeit aber alles besetzt ist, selbst für Menschen auf der Dringlichkeitsliste.

Zwei Jahre zuvor, 2015: Ihr Sohn Andreas stirbt nach langer Krankheit. Er leidet lange an Atemnot und vermutet, dass seine Beeinträchtigung mit seiner Arbeit am Flughafen zusammenhängt, «mit dem Einatmen von Kerosindämpfen beim Betanken der Flugzeuge, beweisen lässt sich das natürlich nicht, aber Andreas war nicht der Einzige mit diesen Problemen.» Andreas hängt sehr an seiner Mutter, besucht sie immer wieder, bis zum Tag, da er nicht mehr kommen kann. Hedwig Suter: «Ich habe bei seinem letzten Besuch gespürt, dass wir uns nicht mehr sehen werden.» Besonders bitter: Weil Hedwig Suter zum Zeitpunkt seines Todes vor einer Rückenoperation im Spital liegt, ist es ihr unmöglich, an seiner Abdankung teilzunehmen. «Die Urne ist bei einer meiner Töchter, wir werden Andreas bei Gelegenheit gemeinsam der Erde übergeben.»

 

Glücklich im Hohmadpark 

Wegen einer Oberschenkelfraktur, bei der sie plötzlich von einer Minute auf die andere 100% hilflos wird, kommt sie nach dem Spitalaufenthalt in den Hohmadpark. Als wir beide auf das «Heute» zu sprechen kommen, auf ihren Aufenthalt im Hohmadpark, so sprudelt es förmlich aus ihr heraus: «Ich fühle mich hier so wohl, so wohl wie noch nie in meinem Leben! Ich geniesse es von A bis Z, jeden einzelnen Tag, alle Arbeiten werden mir abgenommen. Als ich hierherkam, war ich Pflegestufe 11, jetzt noch 2, fantastisch! Ich komme viel zum Lisme, und kann mich mit Puzzles beschäftigen.

Ich hoffe, dass ich davon noch sehr lange profitieren kann.» Und wen wundert es unter diesen Umständen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hohmadparks Hedwig Suter als «Vorbild für alle» bezeichnen? Hedwig Suter ist mittlerweile übrigens ins Martinzentrum gezügelt.

Hinterlassen Sie einen Kommentar

* Erforderlich